„The Planetary Garden. Cultivating Coexistence“. Unter diesem Titel zeigt die Manifesta 12 in Palermo Arbeiten an 20 historischen Orten, die Fragen zu drängenden Themen wie Migration und Klimawandel aufwerfen.
Hedwig Fijen, diesjährige Leiterin der Manifesta 12 in Palermo, eröffnete die europäische Wander-Biennale für zeitgenössische Kunst und Kultur mit den Worten, die sizilianische Hauptstadt sei ein „Mikrokosmos verdichteter Geschichte.“ Tatsächlich gibt es nur wenige Städte, in denen sich die Spuren der Vergangenheit und die Herausforderungen der Gegenwart so deutlich abbilden wie in Palermo, dieses Jahr übrigens auch Kulturhauptstadt Italiens. Einst waren hier die Phönizier, Griechen, Römer, Araber, Normannen, Staufer, Angeviner, Aragoneser, Spanier, Savoyer, Österreicher, Bourbonen und schließlich die Italiener.
An 20 historischen Orten, darunter Kirchen, Gärten und Paläste, allesamt keine Kunstinstitutionen und viele davon sonst nicht zu besichtigen, werden Arbeiten von 50 Künstlerinnen und Künstlern gezeigt, darunter 35 Auftragsarbeiten. Mit ihrem Leitmotiv „The Planetary Garden. Cultivating Coexistence“ bezieht sich die Manifesta 12 auf Veränderungen durch Migration und Klimawandel und fragt, ob Kunst die Zukunft einer Stadt, einer Region und einer Gesellschaft beeinflussen kann.
Der Traum von einem einem harmonischen Zusammenleben
Ihre „Ikone“ hat die Manifesta 12 im Gemälde „Ansicht von Palermo“ (1875) von Francesco Lojacono, dem bedeutenden sizilianischen Landschaftsmalers des 19. Jahrhunderts, heute Teil der örtlichen Galleria communale d’Arte Moderna. Denn in dieser historischen Darstellung der Stadt ist nichts einheimisch. Vielmehr bildet sie das gelungene Ergebnis der Integration fremder Arten: Die abgebildeten Olivenbäume sind aus Asien, die Feigenkakteen aus Mexiko, die Mispelbäume aus Japan und sogar die Zitronen – das Symbol Siziliens – eine Hinterlassenschaft der Arabischen Herrschaft. Und so konzentriert sich die nomadische Biennale auf die ambitionierte Vorstellung eines planetarischen Gartens und erforscht die Fähigkeit eines harmonischen Zusammenlebens. „Hier in Palermo“, so ihr Bürgermeister Leoluca Orlando, „gibt es keine Migranten, denn wer in der Stadt ankommt, der wird Palermitaner.“
Die zentralen Orte der Wanderausstellung liegen fußläufig zueinander im Altstadtviertel La Kalsa. Ihr Zentrum bildet die Piazza Magione, die sich wie ein Symbol Palermos lesen lässt. Nachdem 1943 durch die Bombardierung der Alliierten, die eigentlich dem Hafen galt, die alten Palazzi zerstört wurden, entstand eine riesige Brache. Die nach dem Krieg gezahlte Entschädigungsleistung wurde veruntreut und die Piazza verkam zu einem Parkplatz. Wer es sich leisten konnte, zog von La Kalsa an den Stadtrand. In unmittelbarer Nähe befindet sich S. Maria dello Spasimo, eine Kirche, die ihr Dach verlor: ein magischer Ort mit erhöht liegendem Garten, der einen wunderbaren Blick auf die umliegenden Hügel gewährt. Hier befindet sich eine Installation des 2013 in London gegründeten Künstlerkollektivs Cooking Sections, die an die traditionellen sizilianischen Bewässerungssysteme angelehnt ist.
Die Biennale besteht aus den drei Sektionen „Garden of Flows“, „Out of Control Room“ und „City on Stage“. „Garden of Flows“, so die offizielle Pressemitteilung der Manifesta, „untersucht Schadstoffe, das Leben der Pflanzen und die Gartenkultur in Bezug zu den globalen Gemeinschaftsgütern. Out of Control Room versucht die unsichtbaren Netzwerke digitaler Informationsflüsse greifbar zu machen, während City on Stage das vielschichtige Wesen Palermos zu greifen versucht, mit dem Ziel ein kritisches Verständnis der unterschiedlichen Aspekte des gegenwärtigen Lebens der Stadt zu fördern.“ Das klingt alles sehr ambitioniert und ist sehr textlastig.
Eine verrottende Industrieanlage in Mitten des botanischen Gartens
Neben Lojaconos Gemälde war der 1789 gegründete Orto Botanico, der wissenschaftliche Botanische Garten der Universität Palermo, der äußerst sehenswert ist, eine wichtige Anregung für das Konzept der insgesamt vier Kuratoren. Der Künstler Michael Wang, 1981 in Onley in den USA geboren, platzierte hier eine Treppe an einer Mauer, die einem einerseits den Blick auf eine alte Großblättrige Feige, andererseits auf eine verrottende Industrieanlage erlaubt, und so den Eingriff des Menschen auf unser Ökosystems verdeutlicht. Außerdem zeigt der 1974 in Peking geborene und in Hong Kong lebende Zheng Bo im Botanischen Garten ein Video, in dem sieben junge Männer in einem Wald in Taiwan intimen Kontakt zu Pflanzen haben, was der Künstler als Pteridophilia, was sich etwa mit „Farnliebe“ übersetzen lässt, bezeichnet.
Weiter nördlich vom Orto Botanico liegt der Palazzo Forcella De Seta. Ursprünglich Ferienhaus einer adligen Familie, wurde es nach den Verwüstungen beim Aufstand von 1820 gründlich erneuert, bis es 1933 von Enrico Forcella, Marquis of Villalonga gekauft wurde. Dieser ließ es umbauen, etwa mit einem Alhambra-Saal, in dem die 1966 geborene holländische Künstlerin Patricia Kaersenhout einen Hügel aus Salz aufgeschüttet hat. Im dazugehörigen Video erfahren wir von einer karibischen Erzählung, wonach Sklaven kein Salz gegessen haben, im Glauben dadurch leichter zu werden und nach Afrika zurückfliegen zu können. Kaersenhout fordert mit ihrer Arbeit die Besucher auf, Salz zu nehmen, es in Wasser zu schütten und so symbolisch den Schmerz der Vergangenheit aufzulösen. Salz als Element des Meeres, über das Menschen verschleppt wurden und sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben aufmachen.
Man spaziert von einem Barockpalast zum nächsten
Noch weiter gen Norden befindet sich der Palazzo Butera, der die Altstadt vom Golf von Neapel abschirmt. Der beeindruckende Barockpalast, welcher nach Jahren der Verwahrlosung 2015 vom Sammlerpaar Francesca und Massimo Valsecchi gekauft wurde, und nun aufwendig renoviert wird, gehört zur ersten Sektion, dem Garten der Ströme. Renato Leotta, 1982 in Turin geboren und zwischen Lissabon und Italien lebend, zeigt hier eine Installation aus Terrakottakacheln. Darin sind Vertiefungen eingelassen, die aussehen, als seien reife Zitronen heruntergefallen.
Mit dieser Arbeit möchte Leotta zeigen, dass Zeit und Ort durch die Schwerkraft miteinander verbunden sind. Melanie Bonaja – die 1978 in Holland geborene Künstlerin hatte 2017 im Frankfurter Kunstverein eine Einzelausstellung – zeigt ein dreiteiliges Video über die Entfremdung, die viele im Westen lebende Menschen zur Natur empfinden. Die 2004 in Los Angeles gegründete Künstlergruppe Fallen Fruit wiederum hat in einem Raum mit Meerblick eine Fototapete angebracht, welche die Früchte zeigt, die über das Jahr hinweg in öffentlich zugänglichen Gärten Palermos wachsen: im Januar und Februar Mandarinen, Grapefruits, Orangen, Kumquats, Tangelos und Avocados, im März und April Blutorangen, Mispeln, Maulbeeren und Guaven, und so weiter, bis Ende des Jahres.
Eine Tapete mit Früchten, die das ganze Jahr über in Palermo wachsen
Geht man zurück stadteinwärts landet man an der Piazza S. Francesco d’Assisi, wo man die berühmten Milzbrötchen und im Anschluss mindestens ein Dolce essen kann, um gestärkt ins Oratorio San Lorenzo zu gehen. Das kürzlich aufwendig restaurierte kleine Oratorium gehört zur dritten Sektion, bei der die Stadt selbst im Zentrum steht. Die Tonaufnahme einer Performance der 1991 in Zagreb geborenen Nora Turato, die sich mit der Geschichte der Frauen Siziliens befasst, erlaubt einen längeren Blick auf die aufwendigen Stuckdekorationen von Giacomo Serpotta (1699-1706). Das Gemälde der Geburt Christi am Altar ist allerdings eine Kopie. Das Original von Caravaggio (1608) wurde bereits 1969 gestohlen. Ein soeben erschienenes Buch der Autorin Rossana Dongarrà über diesen aufsehenerregenden Raub gibt Hoffnung, dass das Werk noch existiert.
Wer gut zu Fuß ist (3 Stunden zu Fuß oder 30 Minuten mit dem Taxi und eine Stunde zu Fuß), läuft Richtung Norden zum Pizzo Sella, dem mit 562 Metern höchsten Punkt des Monte Gallo, der Palermo im Nordwesten von seinen Vororten Mondello und Sferracavallo trennt. Obwohl er unter Naturschutz steht, wurde hier zwischen 1978-1983 eine Siedlung gebaut, die Symbol der Korruption wurde. Die Betonruinen sind ein Beispiel für den „Incompiuto Siciliano“, den „unfertigen Sizilianischen“, denn die Cosa Nostra verdiente ihr Geld nicht mit dem Fertigstellen, sondern mit dem Bauen selbst. Doch Palermo steht zu seiner Geschichte und hofft mit dieser Kultur, zu der auch der Palermo Atlas entwickelt wurde, eine nachhaltige Stadtentwicklung anzuregen. Die Aussicht von hier oben jedenfalls entschädigt für jeden einzelnen Schritt.
Die US Navy in den Korkwäldern Siziliens
Keine fünf Minuten im Süden vom Oratorio di San Lorenzo liegt der auf das 15. Jahrhundert zurückgehende Palazzo Ajutamicristo. Unter den neun Werken, die alle zur ersten Sektion, dem “Garden of Flows“, gezählt werden, ist die von Tania Bruguera, die 1968 in Havana geboren wurde und dort auch lebt und arbeitet. Bruguera setzt sich mit dem neuen Satellitenkommunikationssystem der US Navy auseinander. Eine der weltweit vier Bodenstationen liegt in einem der letzten Korkwälder Siziliens, in der Nähe der Stadt Niscemi, und ermöglicht, Kriege aus der Ferne zu steuern.
Nicht von Datenübertragung und Funkwellen, sondern von Migrations- und Warenflüssen handelt Lydia Ourahmanes Installation „The third Choir“. Sie besteht aus 20 leeren Ölfässern mit jeweils einem Handy im Inneren, die alle den gleichen Radiosender ausstrahlen. Die Arbeit der 1992 im algerischen Saïda geborenen Künstlerin war 2014 ihre Abschlussarbeit an der Londoner Akademie und ist das erste Kunstwerk, das seit 1962 Algerien legal verlassen hat. Ourahmane reflektiert den bürokratischen Aufwand in Zusammenhang mit der Reise des Werks von Algerien nach Europa, der in die gleiche Richtung geht, in die so viele wollen, die sich auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer begeben.
Zu Beginn der Manifesta 12 veranstaltete Marinella Senatore eine Prozession (die Dokumentation hierzu ist in der Chiesa die SS. Euno e Giuliano an der Piazza Maggione). Das „Protest Bike“ der 1977 in Kampanien geborenen und in Paris und London lebenden Künstlerin war unlängst in der Ausstellung „Power to the People“ der SCHIRN zu sehen. Senatore motivierte für ihre dreistündige „Palermo Procession“ zahlreiche Einwohner – vier Tanzgruppen, eine Schlagzeugband, eine Rock- und eine Opernsängerin, einen Kirchenchor, zwei Kapellen, eine Gruppe Partisanen, einen Kampfsportverein, einen Taubstummen-Chor und mehrere Schulklassen – , um Palermo als tanzende Stadt, als Stadt in ständiger Bewegung vorzustellen. Die Prozession startete an der Fontana Pretoria, aufgrund der vielen nackten Statuen im Volksmund auch Brunnen der Schande genannt, und endete am Meer – genau dort, wo die Bucht so schön ist, dass sie auch die Goldene Muschel – La Conca d’Oro – genannt wird.