Eine Mauer in Mitten Berlins war geplant, die Rekonstruktion eines totalitären Staates. Nun ist die große Eröffnung des Dau-Projekts geplatzt, doch Ilya Khrzhanovsky schmiedet bereits neue Pläne.
Ganz Berlin, ja, die gesamte Republik, redet seit einigen Wochen über das monumentale „Dau“-Projekt des russischen Filmregisseurs Ilya Khrzhanovsky. Doch die große Eröffnung ist nun geplatzt, nachdem die Berliner Behörden keine Baugenehmigung für eine Replik der Berliner Mauer erteilten. Einen Monat lang sollte sie inmitten der Hauptstadt ein Gelände absperren, um dort, unter anderem anhand von Filmvorführungen, die fiktive Situation eines totalitären Staats zu rekonstruieren. Für den Zutritt hätten Besucher ein Visum beantragen müssen. Thomas Oberender, Leiter der Berliner Festspiele, will diese Sperrzone als „radikal verstörenden“ künstlerischen „Erlebnisraum“ verstanden wissen. Doch was steckt eigentlich dahinter?
Hinter dem Kürzel „Dau“ verbirgt sich der sowjetische Physiker und Nobelpreisträger Lew Landau (1908–1968). Gespielt von dem als exzentrisch geltenden griechisch-russischen Dirigenten Theodor Currentzis, soll anhand der Figur Landaus in einem breit angelegten Epos die Epoche der Stalinzeit künstlerisch reflektiert werden.
Eine echte, funktionierende Stadt im Stil der Stalin-Architektur
Khrzhanovsky hat dafür gemeinsam mit dem Produktionsdesigner Denis Shibanov zwischen 2008 und 2011 außerhalb der ukrainischen Stadt Charkiw ein gigantisches Filmset aufgebaut. Rund um den Hauptort der Filmhandlung, das fiktive „Moskauer Physikalische Institut“, wurde eine Stadt im Stil der Stalin-Architektur der 1950er Jahre errichtet – keine Kulissenstadt, sondern eine reelle, funktionierende Stadt, mit Denkmälern, Wohnhäusern, Kantinen, Friseurläden, sowie patrouillierenden Soldaten und Sicherheitsbeamten.
Die Darsteller, größtenteils Laien, hatten ihre eigene Rolle zu spielen, und zwar rund um die Uhr – allerdings durch eine Zeitreise zurück in die 1940er bis 1960er Jahre versetzt. Teilweise bis zu drei Jahre lang wohnten sie in der rekonstruierten sowjetischen Stadt. Was zunächst wie ein Filmdreh aussah, wurde zum sozialen Experiment. Wörter wie „Dreh“, „Szene“, „Makeup“ oder „Regisseur“ waren am Set verboten. Von dem „Film“ durfte höchstens als von einem Dokumentarfilm über das Institut die Rede sein. Und Khrzhanovsky ließ sich schlicht als Chef des fiktiven Forschungsinstituts anreden.
Eine Filmkulisse als Mikrostaat, wobei der filmische Apparat selbst zum Mittel der Kontrolle und Überwachung wird: „Das Set war ein Panoptikum. Mikrophone waren in Lampen versteckt, wie in Stalins UdSSR, so dass Khrzhanovsky von überall filmen konnte“, berichtet der Journalist und Autor Michel Idov. Als er das Filmset besuchte, musste er wie alle Besucher und Beteiligten seine Kleidung, einschließlich der Unterwäsche, gegen historische Kostüme eintauschen. Nichts sollte mehr an die Realität des 21. Jahrhunderts erinnern.
Die Erweiterung des fiktiven Rahmens des Films auf die soziale Situation seiner Herstellung und Rezeption – so könnte man die ästhetische experimentelle Anordnung des Dau-Projekts charakterisieren. Ein Experiment mit durchaus ungewissem Ausgang. Die Grenzen und Übergänge zwischen Leben und Kunst waren bereits in Khrzhanovskys Spielfilmdebüt „4“ (2004) Thema. In düsterer dostojewskischer Grundstimmung und in verstörenden Bildern führt die Filmhandlung aus einem dystopischen, postsowjetischen Moskau in eine phantasmagorische Darstellung eines ruralen Russlands, das als karnevalesk anmutende Parallelwelt inszeniert wird: ein postmodernes Recycling grotesker Renaissance-Bildwelten und der bäuerlich-derben Genreszenen eines Bruegel.
Das Set war ein Panoptikum. Mikrophone waren in Lampen versteckt, wie in Stalins UdSSR, so dass Khrzhanovsky von überall filmen konnte.
Das Konzept der Karnevalisierung des russischen Literatur- und Kunstwissenschaftlers Michael Bachtin hat hier sicherlich Pate gestanden. Der Film zitiert Topoi der Maskerade und Verwandlung, rituelles Gelächter, Doppelgänger, groteske Puppen und Körper, Tropen des Monströsen, der Zerstückelung, des Verspeisens und Einverleibens, des karnevalesken Triumphs des Lebens über den Tod. Wie in den von Bachtin analysierten mittelalterlichen Possen, wo die Dorfbewohner sich selbst spielen, hat auch Khrzhanovsky für die ländlichen Begräbnis- und Festmahlszenen statt professioneller Schauspielerinnen alte Frauen aus der ländlichen Region um Pskow gecastet.
Vieles spricht dafür, dieses Konzept der Karnevalisierung auch in „Dau“ am Werk zu sehen. Denn auch der Karnveval diktiert, für einen begrenzten Zeitraum, seine eigenen Gesetze, die der Freiheit. In dem Dau-Experiment verknüpft Khrzhanovsky die anarchische Freiheit des Karnevals mit dem repressiven System einer totalitären Ordnung. Das Drehbuch für den Film hat, wie schon für „4“, der Schriftsteller Wladimir Sorokin verfasst. Er ist prominenter Vertreter einer Generation postmoderner russischer Schriftsteller, deren Texte in den 1980er Jahren im Untergrund – dem „Samisdat“ – kursierten. Zu Beginn der Dreharbeiten war Sorokins Drehbuch noch maßgeblich, doch nach und nach gewann das filmische Projekt an Eigendynamik.
Nach dem Scheitern in Berlin ist der nächste Versuch in Paris geplant
„Ich habe zweieinhalb Jahre lang eigentlich gar keine Muster gesehen“, erinnert sich der Kameramann Jürgen Jürges, der drei Jahre in der Filmstadt bei Charkiw lebte. Aus insgesamt tausend Kilometern belichtetem 35-mm-Film (das entspricht 700 Stunden Rohmaterial) sind inzwischen 13 abendfüllende Spielfilme, sowie mehrere Serien montiert worden. Erste Sichtungen des Filmmaterials lassen eine eklektische Mischung aus Historienfilm und Reality-TV, Hollywood-Epos und experimenteller Handkamera-Ästhetik, mit kunsthistorischen Anleihen von Hieronymus Bosch über die „analytische Kunst“ des Avantgardisten Pawel Filonows bis hin zur Ästhetik des sozialistischen Realismus erahnen. Man darf gespannt sein. Nach dem Scheitern der Premiere in Berlin ist der nächste Versuch im kommenden Jahr in Paris geplant.