SCHIRN TIPP

TERRITORIUM

Im Frankfurter Ausstellungsraum EULENGASSE eröffnet die Gruppenausstellung „Territorium“

Von Markus Woelfelschneider

Vergangenen April nahmen sechs Mitglieder des Frankfurter Kunstvereins Eulengasse erstmals an der „SUPERMARKET Stockholm Independent Art Fair“ teil – einer Kunstmesse, die sich speziell an Künstlergruppen richtet, die keiner kommerziell orientierten Institution angehören und zudem einen eigenen Ausstellungsraum betreiben. Ein halbes Jahr nach der Schwedenpremiere wird die Ausstellung „Territorium“ nun vom 26. November bis zum 20. Dezember auch in Frankfurt gezeigt. „Der Titel lag für uns nahe, weil er nach Aufbruch und Reisestimmung klingt“, erzählt Vládmir Combre de Sena, der zusammen mit Andrea Blumör als Kurator fungiert. Schließlich wollte die Gruppe mit ihrer Kunst die schwedische Hauptstadt erobern. Der Begriff „Territorium“ ist von den Ausstellungsmachern aber nicht streng geografisch gemeint, sondern schließt zum Beispiel auch mentale Landkarten und Erinnerungsräume mit ein. 

Der Ausstellungstitel lag für uns nahe, weil er nach Aufbruch und Reise­stim­mung klingt

Vládmir Combre de Senas

Der studierte Architekt Harald Etzemüller steuert zur Ausstellung eine Bildstrecke aus knapp 100 postkartengroßen Fotos von Orten bei, die er im Laufe der vergangenen 25 Jahre besucht hat. Einige der dicht gehängten Bilder scheinen miteinander zu verschmelzen – obwohl sie in völlig verschiedenen Teilen der Welt aufgenommen wurden. Man entdeckt überraschende Übergänge oder unerwartete Gemeinsamkeiten zwischen Motiven, die vermeintlich nichts miteinander zu tun haben. Ein Mosaikboden einer Moschee in Kleinasien tritt zum Beispiel mit einem Wasserteppich im schwäbischen Freudenberg in Beziehung. Auf dem Tisch neben der Fotowand hat Etzemüller eine kleine Bibliothek mit Texten zum Thema „Territorium“ aufgebaut. Wer will, kann in einem Katalog entschlüsseln, an welchen Orten seine Fotos aufgenommen wurden. „Man kann mein Werk studieren – oder aber rein emotional erfassen. Der Betrachter soll sich entscheiden“. 

Die Städel-Absolventin Sabine Zimmermann fotografiert, zum Teil mit dem Handy, seit rund fünf Jahren sogenannte Gartenflüchtlinge, die ihr am Wegesrand begegnen – Blumen und Pflanzen also, die es aus den Gärten ihrer Züchter hinaus in die urbane Wildnis verschlagen hat. Und die dort zwischen grauen Mauerritzen oder auf Pflastersteinhügeln den öden und unwirtlichen Verhältnissen trotzen. Vielsagenderweise gibt Zimmermann ihren widerspenstigen Mauerblümchen die Namen berühmter Künstlerinnen, von denen einige im Schatten noch berühmterer Männer standen. Die Schriftstellerin Lou Andreas Salome zum Beispiel wird oft auf ihre Rolle als Muse von Rainer Maria Rilke reduziert. „Mir geht es aber nicht so sehr um die Biographien dieser Frauen, sondern um einzelne ihrer Werke, die mich in verschiedenen Phasen meines Lebens geprägt haben“, sagt Zimmermann über die 12 Fotos ihrer Reihe mit dem Titel "La Femmes de la Révolution after Ian Hamilton Finlay". 

Heide Khatschaturians Installation „Höhle“ war bei der Ausstellungspremiere in Stockholm der Hingucker. „Die Leute haben Selfies gemacht“, erzählt Vládmir Combre de Sena. Einmal wurde das Kunstwerk sogar umgestoßen. In Frankfurt ist nun sicherheitshalber eine Linie aus Kreide ringsherum gezogen. Man sieht eine Gruppe bunter Trolle aus Plastik, die sich unter dem schützenden Dach eines Elchgeweihs versammelt. Die kleinen Figuren stehen auf einer Glasplatte, unter der ein transparentes Gemälde zum Vorschein kommt, das von unten beleuchtet wird. Die ganze Konstruktion befindet sich auf einem hohen Sockel, der mit seinen dünnen Metallstäben ein wenig an staksige Elchbeine erinnert. „In meiner Arbeit geht es um Erinnern und Vergessen“, sagt Heide Khatschaturian. „Ich arbeite oft mit Fundstücken, die mit privaten Erinnerungen verknüpft sind. Das Elchgeweih stand jahrelang auf unserer Garderobe. Gäste hängten ihre Hüte daran. Mein Mann hatte es einst in Schweden gefunden, wo wir gemeinsam viele Sommerurlaube verbrachten.“

„Reisen ist eine zentrale Beschäftigung in meinem Leben“, sagt Andrea Blumör, die in Essen Malerei und Fotografie studierte. „Meist bleiben von meinen Besuchen in fernen Ländern Eintrittskarten, Stempel, Passseiten oder ein Haufen anderer Zettelchen übrig“. Statt die vermeintlich banalen Mitbringsel im heimischen Papierkorb zu entsorgen, nimmt sie Blumör in ihrem Atelier in den Offenbacher Zollamtstudios als Vorlage für großformatige Ölgemälde. Wegwerfartikel werden auf diese Weise in Kunst verwandelt. Am 7.10.2003 tauschte Blumör bei einer in Bank Ghana ein Bündel Geldscheine in die Landeswährung Cedi um. Der kreisrunde Datumsstempel, der ursprünglich auf einer Banderole prangte, die um die Geldnoten gewickelt war, ziert im Ausstellungsraum Eulengasse nun in einer 1,70 mal 1,50 Meter großen XXL-Version die Leinwand. „Ghana war das erste afrikanische Land, das ich besuchte“, sagt Blumör. „Mein Bruder hat fünf Jahre dort gelebt. Die Reise hat mir einen neuen Kontinent erschlossen.“

Eine der beiden Zeichnungen, mit denen der Künstler Helmut Werres vertreten ist, entstand auf der Bahnfahrt zur Ausstellungspremiere nach Stockholm. Inspiriert von der vorbeieilenden Landschaft, aber auch von der Eigenbewegung des Zuges, ließ Werres einen feinen, schwarzen Tintenstift über einen breiten Papierbogen gleiten. Das Ergebnis ähnelt der Spur eines Seismographen. Figurative Elemente wie Bäume oder Gebirgszüge wurden im Laufe von rund 14 Stunden Fahrtzeit zu einem filigranen Liniengeflecht verwischt. „Hier haben wir die Bahnfähre zwischen Puttgarden und Rodby“, sagt Werres mit einer Selbstverständlichkeit als würde er gerade auf ein fotorealistisches Gemälde deuten. Seit drei, vier Jahren lässt Werres auf diese originelle Weise seine Bilder entstehen. Erst zwei Mal wurde er dabei von neugierigen Sitznachbarn angesprochen: „Auf einem Flug nach Mallorca erkundigte sich eine Frau, ob ich gegen meine Flugangst anzeichnen würde. Ihr Sohn habe das gleiche Problem. Im Bordbistro eines ICE Richtung Düsseldorf fragte mich ein verkaterter Engländer, ob er sich mit seinem Namen in meinem Bild verewigen darf. Ich habe es ihm gestattet.“

Vládmir Combre de Senas wunderbar ironische Videoinstallation „Ehrenmänner“ zeigt zwei Männer in schwarzen Anzügen, die auf einer Sommerwiese in der Wetterau in ein kurioses Duell verwickelt sind: Entschlossen treten die beiden Kontrahenten aufeinander zu, um zackige Bewegungen auszuführen, die auf den ersten Blick an Kampfsport oder Fechtkunst erinnern – sich bei näherem Hinsehen aber als das Kinderspiel „Schnick, Schnack, Schnuck“ entpuppen. Nach jedem Durchgang muss der Verlierer ein Kleidungsstück ablegen. Am Ende stehen beide Männer in Unterhosen in der deutschen Mittelgebirgslandschaft. „Ich bin in Recife aufgewachsen - einer Stadt am Meer. Dort interessiert man sich nicht besonders für das brasilianische Hinterland. Waldlandschaften wie die Wetterau sind für mich typisch deutsch“, sagt Combre de Sena – einer der beiden Duellanten aus dem Video. „Es geht in meiner Arbeit um Identitätssuche und Männlichkeitsrituale, die immer auch etwas Lächerliches haben.“ 

Ebenfalls aus Recife stammt Marcelo Coutinho, der vom Kuratorenteam als Gastkünstler eingeladen wurde. Zur Ausstellung steuert er die surreal anmutende Videoinstallation „Ô“ bei. Im Laufe des rund 20minütigen Films sieht man immer wieder Szenen, in denen ein Messer von einem Wetzstein geschliffen wird – so intensiv und lange, bis am Ende beide Gegenstände verschwunden sind.