Die Bildhauerin Sabine Kuehnle verbindet griechische Mythologie mit den Erweckungsphantasien der kunstbegabten Psychiatriepatientin Else Blankenhorn.

Ein Fahrstuhl bringt uns in den Keller des Atelierfrankfurt. Wir betreten einen fensterlosen Raum, der früher einmal als Lager für leicht verderbliche Lebensmittel benutzt wurde. Die unzähligen Stellen, an denen die weißen Kacheln unter dem Einfluss der Kühlhauskälte brüchig geworden sind und nun von den Wänden bröckeln, hat die Bildhauerin Sabine Kuehnle mit 24-karätigem Blattgold ausgebessert. Auf dem Boden des Raums liegt eine halbe Tonne feiner Quarzsand verteilt, in den ein Videobeamer ein trapezförmiges Bild wirft, das den Himmel über dem Schweizer Sanatorium Bellevue zeigt – jener psychiatrischen Heilanstalt in Kreuzlingen am Bodensee, in der von 1906 bis 1920 die an Schizophrenie erkrankte Else Blankenhorn lebte. Und dort ohne jede akademische Vorbildung Bilder malte, die auch vom berühmten Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner geschätzt wurden, der zeitweise ebenfalls Patient der luxuriösen Klinik war.  

„Mir ging es darum, eine Begegnung zwischen Orpheus und Else Blankenhorn zu inszenieren“, erzählt Sabine Kuehnle, deren Ausstellung „Orpheus & Else oder die Überfülle des Lebendigen“ am 23. Oktober um 19 Uhr im Rahmen der Reihe „Vorspiel“ eröffnet wird. Neben eigenen surreal anmutenden Skulpturen gehören auch Nachdrucke von Else Blankenhorns Gemälden zu Kuehnles raumfüllender Installation. Die Originale stammen aus der Sammlung Prinzhorn des Uniklinikums Heidelberg. Mit der Kunsthistorikerin Doris Noell-Rumpeltes, Leiterin des Hans-Prinzhorn Archivs, hat Sabine Kuehnle während der Ausstellungsvorbereitung eng zusammen gearbeitet. 

„Else Blankenhorn kam in die Psychiatrie kurz nachdem ihr Vater und ihre Großmutter starben“, erzählt Sabine Kuehnle. „Sie hat dort unter anderem Geldscheine aus Briefpapier gebastelt und bemalt, mit denen sie Liebespaare aus dem Jenseits zurückkaufen, also wieder lebendig machen wollte. Auf anderen Bildern malte sie Häuser, Wohnungen und Betten und stellte detaillierte Berechnungen darüber an, wieviel Platz sie wohl brauchen würde, um all die von den Toten auferstandenen Personen unterzubringen.“ In Else Blankenhorns Krankengeschichte mit den wahnhaften Erweckungsphantasien gibt es eine faszinierende Parallele zum antiken Mythos von Orpheus und Eurydike: Der Sänger Orpheus steigt hinab in die Unterwelt, um mit den Mitteln der Kunst – nämlich seinem Gesang – die tote Geliebte zurückzuholen. Die Aktion scheint zunächst zu klappen, scheitert aber daran, dass Orpheus gegen eine Vereinbarung verstößt, die er mit dem Totengott Hades getroffen hat: Er wirft auf dem Rückweg einen Blick hinter sich.

„Dieser flüchtige Blick, mit dem man etwas erfassen will, das letztlich nicht greifbar ist, gleich wieder zerfällt und für immer ein Rätsel bleibt – ich finde, das ist eine gute Metapher auf die Kunst und das Bemühen des Künstlers schlechthin“, sagt Sabine Kuehnle.

Das ist eine gute Meta­pher auf die Kunst und das Bemü­hen des Künst­lers schlecht­hin

Sabine Kuehnle

Mit ihren Skulpturen greift Sabine Kuehnle Motive aus Else Blankenhorns Malereien auf und spielt gleichzeitig immer wieder auf den Mythos von Orpheus in der Unterwelt an. Man sieht zum Beispiel eine wuchtige Baumwurzel auf einem kreisrunden Spiegel liegen, über dem der Arm einer Schaufensterpuppe von der Decke baumelt. Wer in den auf dem Boden liegenden Spiegel blickt, hat das verwirrende Gefühl, dass jemand von unten nach ihm greift. In einer anderen Ecke des Raumes steht eine aus mattschwarz gestrichenem Holz gezimmerte Leiter, deren oberes Ende abgebrochen ist. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Bruchstelle ein stilisiertes Kreuz bildet, so wie man es auch in einem von Else Blankenhorns Gemälden wiederfindet, das an einer der weißgekachelten Wände hängt.

Titelbild: Sabine Kuehnle, Ausstellungsansicht Orpheus & Else, Foto: Ulla Kuehnle, 2015