Der Ausstellungsraum „Husslehof“ zeigt neue Arbeiten von Jessica Sehrt an der Grenze zwischen Kunst und Naturwissenschaft. Zudem stellt die „Realism Working Group“ ihre alternativen Wohnkonzepte vor.
Von Nahem auf eine Leinwand zu blicken, das sei „wie ein Blick ins Mikroskop." Es ist kein Zufall, dass Jessica Sehrt Malerei und Naturwissenschaft in einem Zug erwähnt. Ihrer künstlerischen Ausbildung an der Hochschule für Gestaltung Offenbach und der Städelschule schloss sie ein Studium der Biowissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt an. Sehrts Ausstellung „End of Pain“ im Ausstellungsraum „Husslehof“ im Frankfurter Gallusviertel gewährt einen Einblick in ihre interdisziplinäre Arbeitsweise.
Im Eingangsraum begegnet man „Orgbot“, einem künstlichen Organismus, den Jessica Sehrt in einer 3D-Software generiert hat. Der Organismus lebt im Internet und ist auf Stromzufuhr und Netzzugang angewiesen. Im „Husslehof“ kann man ihn auf einem kleinen Bildschirm beobachten. „Orgbot“ sei aus einzelnen Partikelsystemen aufgebaut, erläutert Sehrt. Die äußere Erscheinung des digitalen Lebewesens ist nicht sehr aussagekräftig, soll es auch nicht sein. Die Arbeit sei ein „Versuch, auf einer technischen Ebene einen Organismus nachzuvollziehen.“ Ergänzt wird die Präsentation von Objekten und Bildmaterial. Das Sehsystem eines Fisches wird als Präparat gezeigt. Überdies sieht man Abbildungen eines Wurzelsystems, des Verdauungssystems eines Wurms sowie der Reproduktionsorgane einer Heuschrecke.
Was unterscheidet Mensch und Maschine?
Zwei neue malerische Werke zeugen von Jessica Sehrts Rückkehr zur Malerei. Für einige Jahre hatte Sehrt „ihre malerischen Interessen auf andere Medien verlagert“. So schuf sie Collagen, Siebdrucke, Filme und Klanginstallationen. Im Studium der Biowissenschaften sei ihr etwas Wichtiges klar geworden, sagt Sehrt: „Der spontane, intuitive, emotionale Blickwinkel unterscheidet den Menschen von einer Maschine.“ Das sei es auch, was Malerei ausmache. Das Gemälde „Socialization (Organising Information)“ wirkt wie eine Illustration von Informationsflüssen, aber auch wie ein Art abstraktes Porträt. Es ist in Sepiatusche, Pigmenten, Schellack und Leinöl ausgeführt. „Ich habe einen Pool an Inhalten und organisiere sie dann intuitiv auf der Leinwand“, so erklärt Jessica Sehrt ihren malerischen Ansatz.
„On Uteri (artificial)“ heißt ein weiteres, großformatiges Gemälde, das den sogenannten „künstlichen Uterus“, und somit auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Reproduktion thematisieren möchte. Im Mittelpunkt des Bildes steht ein schwangerer weiblicher Torso, der an diverse Schläuche und Apparaturen angeschlossen zu sein scheint. In der linken Bildhälfte erscheinen, in geisterhaftem Weiß, Gesichter eines Kindes und älterer Personen. Jessica Sehrt spricht von „visuellen Allegorien“. Angedeutet ist überdies ein Tisch, so dass man an eine Familientafelszene denken könnte – mit all den Erwartungen und Konflikten und Missverständnissen.
Ein utopisches architektonisches Konzept
Der zweite Raum der Ausstellung widmet sich dem Wirken der Gruppe „Realism Working Group“, der Sehrt angehört. Die Gruppe besteht aus drei ständigen Mitgliedern und weiteren Assoziierten. Ihr Thema ist „Realismus in Kunst und Alltagsleben“ – als kritische Haltung dem Alltag gegenüber. Was zunächst abstrakt klingt, kann man im „Husslehof“ anhand von drei Projekten der Gruppe nachvollziehen. 2013 wurde die „Realism Working Group“ Teil eines Projekts für die Nutzung des von Ferdinand Kramer entworfenen Philosophicums auf dem Frankfurter Universitätscampus Bockenheim. Ihre anfängliche Zusage zog die städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG jedoch zurück. Nun errichtet ein privater Investor dort hochpreisige Appartements. Im Jahr 2015 erarbeitete die „Realism Working Group“ in Zusammenarbeit mit einem Architekturbüro „Communal Villa“, ein utopisches architektonisches Wohn- und Arbeitskonzept.
„Wie wollen wir wohnen und arbeiten?“, lautete dabei die Leitfrage. Das 1:1-Modell eines Raums aus der „Communal Villa“ war im Rahmen der Ausstellung „Wohnungsfrage“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) zu sehen. Dort wurde Felix Große-Lohmann, der den „Husslehof“ leitet, auf Jessica Sehrt aufmerksam. Das jüngste Vorhaben der „Realism Working Group“ ist das „Hausprojekt NiKa“ im sich immer stärker gentrifizierenden Frankfurter Bahnhofsviertel. Erst kürzlich bekam die Gruppe eine Zusage von der Stadt Frankfurt. Nun kann das Gebäude gekauft und zu einem gemeinschaftlich organisierten Wohnhaus entwickelt werden. Im Erdgeschoss soll ein öffentlicher Kunst- und Veranstaltungsraum eingerichtet werden. Das siebte Stockwerk wird zu einer Gemeinschaftsetage mit einem Dachgarten, sagt Jessica Sehrt.
Mit ihrer Kunst und ihren Projekten thematisiert Jessica Sehrt auf mehreren Ebenen das Leben. Sie schaut auf soziale Aspekte, aber auch auf biologische Grundlagen, und greift aktiv in den Alltag ein. „Kunst ist für mich auf jeden Fall auch Kommunikation“, bekennt Sehrt. Ihre Ausstellung wird von mehreren Führungen und Workshops begleitet.