Gefängniszellen, tote Häuser und geweißelte Liebeslauben: Ein Besuch auf der Darmstädter Mathildenhöhe bietet Einblicke in die Welt des gefeierten Bildhauers

„ ...und dann am besten die Tür schließen!“ heißt es, bevor man die Ausstellung von Gregor Schneider auf der Mathildenhöhe betritt und sich freiwillig aufmacht in die nachgebildeten Hochsicherheitszellen des Camp V von Guantánamo. Die sind hier nur mit Schiebetüren versehen, ansonsten soll aber alles stimmen: Aseptisches Weiß, grelle Deckenlampe, eine grüne Sitzfläche, Klo und Waschbecken aus Stahl. Irgendwann drängt es einen wieder hinaus, aus Beklemmung, Langeweile oder wegen des unerträglichen Lichts, doch auch der Gang ist ebenso grell ausgeleuchtet. Also schnell weiter, in die große Ausstellungshalle.

Räume können einen Menschen reichlich irre machen, selbst wenn sie nicht auf die Größe einer Gefängniszelle begrenzt und grell ausgeleuchtet sind: Märchenkönig Ludwig verzweifelte irgendwann an seinem Phantasten-Schloss Neuschwanstein, das er zu Lebzeiten nie fertigstellte, aber dafür erfreuen sich heute Millionen Besucher an dem über-romantischen Bauwerk, das einen Hauch von Disneyland nach Süddeutschland bringt. Und Sarah Winchester, wohlhabende Witwe eines Gewehrfabrikanten, fürchtete sich angeblich so sehr vor der Heimsuchung jener Verstorbenen, die durch die Fabrikate ihres Ehemannes zu Tode gekommen waren, dass sie  – auch dank des eben hierdurch erlangten Reichtums – ihr komplettes Zuhause in ein einziges Labyrinth umbauen ließ, auf dass die Geister sie niemals finden mögen. Zeit ihres Lebens (mit Beginn im Jahr 1884) entstanden so neue Zimmer, Geheimgänge, Treppen oder Türen, die ins Nichts führen. Als Winchester Mystery House kann das ganze 160 Räume sowie mehrere Dutzend Kamine und Schornsteine umfassende, skurrile Anwesen heute besichtigt werden, in urbanen Mythen und Legenden hat es längst Einzug in die Popkultur erhalten.

Gregor Schneider weiß um die enorme Wirkungskraft von Räumen: Die Tatsache, dass ein paar Wände, eine Decke und ein Boden eine Form von Privatsphäre überhaupt erst ermöglichen und gerade deshalb dem Außenstehenden, der keinen unmittelbaren Einblick erhält, so suspekt erscheinen. Und er weiß vermutlich um den schönen Schauer, der einem über den Rücken läuft, wenn man schließlich dann doch Einblick erhält in jene Räume, die einem üblicher Weise verschlossen blieben. Die Arbeiten des preisgekrönten Bildhauers umspannen all diese menschlichen Affekte und Assoziationen, mit denen sich der Raum verknüpfen lässt – von Voyeurismus bis Heimwerkelei, von kleinbürgerlicher Piefigkeit bis Pomp und vom Kunstwerk bis zum Tatort – aber eben nicht zuletzt immer auch: mit der Person Gregor Schneider selbst.

Geboren wird der Bildhauer 1969 in Rheydt, heute ein Teil von Mönchengladbach. Mit sechzehn Jahren hat Schneider mit „pubertäre verstimmung“ seine erste Einzelausstellung in der Galerie Kontrast. Im selben Jahr beginnt er, ein komplettes Wohnhaus, das sich im Familienbesitz befindet, umzubauen und einzurichten: Er zieht zweite Wände ein, baut schalldichte Zimmer, die nur von außen geöffnet werden können, unter das Kaffeezimmer wird gar eine Drehbühne gesetzt. Das ungewöhnliche Projekt bleibt nicht unentdeckt, später wendet sich Gregor Schneider selbst an Ausstellungsmacher oder Kritiker, um sie in sein HAUS u r (für Unterheydener Straße, Rheyd) einzuladen.

Ob der Künst­ler tatsäch­lich zwischen gewei­ßel­ten Wänden in spär­lich möblier­ten, verschach­tel­ten Zimmern lebt? 

Neben den obsessiv bearbeiteten Räumen, von denen allein schon eine äußerst morbide Faszination ausgeht, sind es die Geschichten, die sich rund um das Haus spinnen: Mal erzählt Schneider von seiner scheuen Mitbewohnerin, einer älteren Dame, einige Jahre später tauchen in einer Ausstellung Skulpturen einer toten Frau auf, die ihren Namen tragen. Und ob der Künstler tatsächlich zwischen geweißelten Wänden in den spärlich möblierten, verschachtelten Zimmern lebt? Im Impressum seiner eigenen Webseite steht bis heute die Unterheydener Straße als seine Wohnanschrift.

Neben dem HAUS u r, das ihm unter anderem 2001 eine Einladung zur Biennale in Venedig und eine Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen verschaffte, beschäftigte sich Gregor Schneider in den folgenden Jahren mit verschiedensten Dimensionen von Raum: Die Hochsicherheitszellen von Guantánamo, das Schwarze Quadrat von Malewitsch und die Kaaba dienten ihm als Ausgangspunkt für eigene Arbeiten. Das Museum Künstlerkolonie der Darmstädter Mathildenhöhe widmet Gregor Schneider jetzt eine eigene Ausstellung: Rund um die historischen Bildhauerateliers werden exakt nachgebaute Räume ausgestellt, aber auch Video-Arbeiten und Fotografien präsentiert. So kann man dem Künstler beim Rundgang durch das labyrinthische HAUS u r sowie durch das ab- und in Venedig wieder aufgebaute TOTE(S) HAUS u r zusehen und –hören oder unter einem Abflussrohr und durch die Rückseite eines Wandschranks geradewegs in die geweißelte „Liebeslaube“ kriechen, ähnlich romantisch wie ein  Krankenzimmer in den 50er-Jahren.

Schneiders Räume verlangen vom Betrachter, dass er sich ihnen ausliefert: Bei geschlossener Türe, allein oder maximal zu zweit betreten, durchkriechen, im Dunkel ausharren, in jedem Fall aber: den Raum begehen, das ist meist notwendig, um seine Kunst erfahren zu können. Insofern bietet die Ausstellung einen guten Einstieg in die Welt von Gregor Schneider auch für zarter Besaitete: Hier kann man einzelne Räume betreten, ohne gleich eine ganze Odyssee durch die mitunter beklemmenden Labyrinthe machen zu müssen. Auf der Rückseite von „Liebeslaube“, einem Teil des auf der Biennale von Venedig 2001 ausgestellten Bauwerks, geben Zeichnungen und Grundrisse Einblick in die Planungen, als ob man den Zuschauer so in Sicherheit wiegen könnte, dass es sich hierbei eben doch um Kunst handelt, um eine Konstruktion, die dem Leben bloß nachempfunden wäre.

Schnei­ders Räume verlan­gen vom Betrach­ter, dass er sich ihnen auslie­fert.

Erstmals werden in Darmstadt außerdem Fotografien mit ausgestellt, die Schneider vom HAUS u r angefertigt hat: Schwarz-Weiß-Abzüge, zum Teil noch in den 80er-Jahren entstanden, die ein großes Interesse an Erforschung und Dokumentation widerspiegeln und die zumindest eine Ahnung davon geben können, wie intensiv sich Schneider mit seiner Arbeit auseinandersetzt – über Jahre, manchmal Jahrzehnte, in denen er einen Raum als Ausgangspunkt nimmt und sich mit jedem Schritt immer weiter in diesen hineinarbeitet, bis er schließlich zu etwas ganz anderem geworden ist. Mehr über seine Arbeit erklärt Gregor Schneider selbst im Künstlergespräch, das Ende November auf der Mathildenhöhe stattfindet.

Titelbild: © Masanobu Nishino