FRANKFURT BABEL
Der Jugendclub des Schauspiel Frankfurt bringt ein Projekt mit jugendlichen Geflüchteten auf die Bühne des Bockenheimer Depots.
Von Sylvia Meilin WeberS., dessen Name hier nicht genannt werden darf, ist 16. Vor vier Monaten flüchtete er aus Afghanistan nach Frankfurt. Allein, ohne seine Familie. In seiner Heimat ging er zur Schule – zumindest, wenn es möglich war. Oft war das nicht möglich, weil die Taliban seine Schule immer wieder besetzen und zerstörten. Nachdem er dem Krieg entkommen war, lebte er zunächst drei Monate in einer Frankfurter Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Dann wurde er verlegt. „Konsequente Zuweisung“ nennt sich das Verfahren, bei dem Asylbewerber aus den Erstaufnahmeeinrichtungen ins Umland verteilt werden. Jetzt wohnt S. in einem Hotel außerhalb Frankfurts, in dem mehrere Geflüchtete untergebracht sind. Einen Schulplatz hat er, obwohl er sich intensiv darum bemüht hat, noch nicht. Aber dreimal in der Woche und an einem Wochenend-Tag fährt er nach Frankfurt – zu den Theaterproben von „Frankfurt Babel“.
In dem Stück steckt ein Teil von jedem von uns.
Das Stück ist ein Projekt des Jugendclubs vom Schauspiel Frankfurt. Die 15 Darsteller sind zwischen 13 und 23 Jahre alt. Regie führen Martina Droste, Leiterin des Jungen Schauspiels, und Chris Weinheimer, freischaffender Musiker und Regisseur. Etwa die Hälfte des Ensembles besteht aus Jugendlichen, die hier aufgewachsen sind, die andere Hälfte aus Kindern, die aus ihrer Heimat flüchten mussten. Die Premiere findet Ende November im Bockenheimer Depot statt.
„Frankfurt Babel“ wurde in den Proben gemeinsam mit den Jugendlichen entwickelt und nimmt die alttestamentarische Bibelgeschichte vom Turmbau zu Babel und der Sprachverwirrung zum Motiv. In diesem Rahmen werden Gedanken, Meinungen und Geschichten der Jugendlichen erzählt, die mitspielen. Sprache, das Verständnis füreinander und der Glaube daran, dass man gemeinsam etwas schaffen kann, sind wichtige Themen des Stücks.
Am Anfang jeder Probe gibt es einen Gesprächskreis, danach Körper- und Sprachübungen. „Daraus ist ein ganz reichhaltiges Material entstanden“, erzählt Martina Droste. Marlon Möhrmann, 17 Jahre alt, in Frankfurt geboren und aufgewachsen, gehört auch zum Ensemble und sagt: „Wir lernen nicht einfach einen Text auswendig und spielen. In dem Stück steckt ein Teil von jedem von uns.“
„Als dieses Projekt geplant wurde, gab es Geflüchtete, aber noch keine sogenannte Flüchtlingskrise“, lautet ein Satz aus „Frankfurt Babel“. „Diese neue Situation hat sich uns als Thema aufgedrängt“, erzählt Chris Weinheimer und meint damit eine Frage, die sich in den vergangenen Monaten in den Köpfen breit gemacht hat: Können wir das schaffen? „Natürlich können wir das schaffen, wenn wir wollen. Es sind viele Flüchtlinge, die zu uns kommen, aber eigentlich gibt es genug Mittel und keinen Grund zur Panik. Wenn man sagt: ‚Es gibt eine große Krise’, dann ist es unsere Aufgabe zu fragen: ‚Was macht den Kern dieser Krise aus?’’“, sagt Martina Droste. Ein anderer Satz aus „Frankfurt Babel“ heißt: „Wir wollten herausfinden, welcher Reichtum entsteht, wenn all unsere Sprachen und Erfahrungen ins Gespräch kommen“. Er wird auf deutsch, persisch, englisch, italienisch, paschtunisch und in anderen Muttersprachen der Mitspieler wiederholt.
Als S. nach Deutschland kam, sprach er kein deutsch. Jetzt, nach nur vier Monaten, versteht er die Sprache sehr gut und kann sich passabel ausdrücken – auch und vor allem wegen des Theaterprojekts. „Zu Beginn habe ich ohne Sprache gesprochen. Ich habe versucht, die Mitspieler über das Gefühl zu verstehen. Denn wenn man die Sprache des anderen nicht versteht, dann muss man fühlen, was der andere will“, sagt er zwei Wochen vor der Premiere. Es ist ein Samstag. Probentag. Aber kein ganz normaler. Denn wenige Stunden zuvor erschütterte Paris eine Serie von Terroranschlägen. „Die Jugendlichen waren sehr aufgeregt“, erzählt Martina Droste, „deshalb haben wir erst einmal eineinhalb Stunden im Gesprächskreis über die Ereignisse diskutiert.“
Ich frage mich: Wie ist es möglich, dass es mitten in Europa so etwas wie Krieg gibt?
Auch S. ist verunsichert: „Ich frage mich: Wie ist es möglich, dass es mitten in Europa so etwas wie Krieg gibt?“ Und Marlon ergänzt: „Ich finde es wichtig, in dieser Situation einen freien Geist zu behalten. Vorurteile sind ein großes Problem“. Wie Vorurteile überwunden werden können, haben S., Marlon und die anderen bei den Proben zu „Frankfurt Babel“ erlebt: „Am Anfang haben sich Gruppen gebildet: die Jungen, die Mädchen, die, die dieselbe Sprache sprechen. Es gab Grenzen. Vor allem die Sprache war eine Grenze. Aber je mehr wir zusammen gearbeitet haben, desto mehr wuchs das Vertrauen zueinander. Es wurde immer leichter, die Sprachbarrieren zu überwinden. Zum einen durch Gestik, zum anderen sind viele multilingual, sodass man sich über mehrere Ecken immer verständigen kann. Wir sind als Gruppe zusammengewachsen. Wenn man einmal die Grenzen niedergerissen und es geschafft hat, sich aufeinander einzulassen, dann ist alles andere gar kein Problem mehr,“ sagt Marlon.