DIGITAL/ANALOG: CERMÂ
Ein Blick in die Nachbarstadt Offenbach, in der mit CERMÂ gerade ein Kunstprojekt verwirklicht wurde, das jegliche räumlichen Grenzen überwindet.
Von Fabian FamulokDie weißen Räume im Westflügel des Offenbacher Bahnhofs bieten die zeitgemäße Voraussetzung für eine Ausstellung. Hohe Fenster und Leuchtstoffröhren lassen den Raum strahlen, der Betonfußboden unterstreicht die Ästhetik. „Aber der reale Raum interessiert mich nicht in erster Linie. Das Projekt ist nicht an einen geographischen Ort gebunden. Mir geht es um die Internetadresse", sagt Manuel Roßner, Initiator und Kurator von CERMÂ. Diese Abkürzung steht für Centre d'Art Mâtiné und beschäftigt sich, laut Selbstbeschreibung, mit dem „Spannungsfeld zwischen Interneterscheinung und Kulturinstitution".
In der digitalen Welt zu Hause
An den Wänden hängt eine überschaubare Anzahl an Werken: Zwei Videos und drei Prints sind großzügig auf die beiden Räume verteilt. Roßner hat Arbeiten für die Ausstellung ausgewählt, die auf sehr unterschiedliche Weisen von der digitalen Sphäre in die Realität und wieder zurück übertragen werden. Die beiden an Jackson Pollock erinnernden Prints aus der Serie „Action Paintings (Masculine Expressionism")" von Jeremy Rotsztain sind Videostills. Die wahre Intention des Künstlers offenbart sich erst in den Videos, die auf der Internetseite des CERMÂ-Projekts ausgestellt werden. Es handelt sich um abstrakte, animierte Farbverläufe in mehreren Schichten, die Bewegungen diverser Filmszenen nachvollziehen. Auch der Künstler Jeremy Bailey wird in Offenbach mit zwei Videos gezeigt, in denen sich dreidimensionale Formen an den Bewegungsabläufen des tanzenden Künstlers orientieren. Baileys Videos sind online und offline dieselben, sind aber offensichtlich eher in der digitalen Welt zu Hause.
Manuel Roßner kann das Prinzip der digitalen Ausstellung „What we call painting" auf jeden beliebigen existierenden Raum anwenden. Und nicht zwangsweise muss der im Internet abgebildete Ausstellungsraum in der Realität existieren. „Aber trotz der Möglichkeit, einen Raum vollkommen der Fantasie entspringen zu lassen, möchte ich mich grundsätzlich an einer realen Vorlage orientieren", sagt Roßner. Im Falle der Offenbacher Ausstellung hat er mit Hilfe eines CAD-Programms, wie es auch von Architekten eingesetzt wird, den Raum maßstabsgetreu programmiert und im Internet dreidimensional zugänglich gemacht. An exakt den gleichen Stellen, an denen im realen Ausstellungsraum die Arbeiten der Künstler gehängt sind, findet auch der Besucher des virtuellen Ausstellungsraums diese Arbeiten.
Der Unterschied zwischen digitaler und realer Welt
Eine Inspiration für das Projekt geht zurück auf den belgischen Künstler Marcel Broodthaers, der sich 1970 kurzerhand sein eigenes Museum selber schuf: Er grub den Grundriss eines Museums Moderner Kunst in den Strand von le Coq in Belgien. Das Wasser spülte das Museum nach kurzer Zeit weg, allerdings blieben die Fotos des Strandmuseums erhalten und verlagerten damit die Existenz des Museums in eine überdauernde Bildwelt. Roßners Konzept überträgt diese Idee in die digitale Welt des Internets: „Überall finden täglich Veranstaltungen und Ausstellungen statt, die man persönlich nie besucht hat. Doch das Gedächtnis des Internets sammelt all diese Ereignisse und speichert sie auf unabsehbare Zeit." Roßner hat sich einen eigenen Ausstellungsraum geschaffen, den er nach seinen Vorstellungen gestalten und kuratieren kann. Wenn die Ausstellung in den Räumen des Offenbacher Bahnhofs endet, muss das nicht zwangsweise auch das Ende der Online-Ausstellung bedeuten.
„Die Arbeiten der Künstler gehören in den digitalen Raum", erklärt Roßner. „Sie werden von den Künstlern selbst in erster Linie im Internet präsentiert, z.B. auf Portalen wie Vimeo oder YouTube." Die Arbeit „Phantom Progression" des Künstlers Andreas Nicolas Fischer nimmt in der virtuellen Ausstellung den gesamten Raum ein und erinnert an eine zerklüftete Berglandschaft. Nach der raumgreifenden Installation sucht man in den realen Ausstellungsräumen vergeblich: Die Skulptur basiert auf den Koordinaten eines CAD-Programms und wird hier nur als zweidimensionales Abbild gezeigt. Ein eindrücklicher Unterschied zwischen digitaler und realer Ausstellung.
Ein interessanter Weg
Beim Ausstellungsbesuch im Internet ist der Besucher gebunden an die Kamerafahrt wie ein Zug an die Schienen. Nur der Blickwinkel kann beliebig gewählt werden. Eine Stimme begleitet die Tour durch die Ausstellung mit Informationen zu den einzelnen gezeigten Positionen. Die erste Ausstellung „What we call painting" kann man online noch bis zum 8. Juli besuchen. Die nächste Ausstellung kuratieren Thomas Cheneseau und Systaime, die eine Auswahl an Künstlern aus dem Super Art Modern Museum (spamm.fr) präsentieren werden. Auch wenn die digitalen Räume bisher noch sehr überschaubar sind, ist der eingeschlagene Weg doch interessant und könnte eine vielversprechende Zukunft haben.
Manuel Roßner studiert experimentelle Raumkonzepte bei Heiner Blum und interaktive Medien bei Alex Oppermann an der Hochschule für Gestaltung Offenbach.