Welche Rolle spielten FLINTA*-Personen in der Schriftgestaltung und Typografie? Gar keine, sofern man der patriarchalen Geschichtsschreibung Glauben schenkt. Die Ausstellung „Same Bold Stories?“ im Klingspor Museum möchte dieses Narrativ ändern – und zeigt Perspektiven von Frauen und Queers auf die historische und heutige Schriftgestaltung.
Im Vorraum des Klingspor Museums in Offenbach lädt eine Ansammlung von Kissen zum Ankommen und Hinsetzen ein. Die Kissen – bedruckt mit einem Glossar grundsätzlicher Begriffe aus dem Bereich der Queer Theory – stammen aus der Ausstellung „The F*Word", die sich vergangenes Jahr im Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg den Guerrilla Girls und feministischem Grafikdesign widmete. Gemeinsam mit Plakaten, auf denen eingängige Fragen abgebildet sind, bieten sie einen Blick auf die grundsätzlichen Themen der Schau: Was heißt FLINTA*? Warum reden wir über Gender? Ist Schrift politisch? Im Hintergrund strahlt eine pinke Neon-Arbeit von Laura Brunner und Leonie Martin (ihrerseits beide Teil des kuratorischen Teams), die unschwer den Schriftzug „suck my p**** patriarchy“ erkennen lässt. Die Kurator*innen beziehen somit gleich zu Beginn klare Standpunkte und stecken den feministischen Rahmen ab, der sich durch die gesamte Ausstellung zieht.
Mit Archivfotografien des Klingspor Museums führt die Ausstellung, die in enger Zusammenarbeit mit dem feministischen Kollektiv +fem und dem Designstudio turbo type realisiert wurde, bereits früh vor Augen, dass FLINTA*-Personen (also alle Personen, die sich nicht als cis-männlich identifizieren) einen beeindruckenden Teil in der Geschichtsschreibung der Schriftgestaltung beigetragen haben. Denn vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt der Beruf der Teilerin – ihrerseits zuständig, die Druckproduktion auf jegliche Fehler zu untersuchen – als reiner „Frauenberuf“. Teilerinnen fungierten als letzte Kontrollinstanz und mussten hierfür sämtliche Abläufe der Schriftgießerei genaustens kennen. Dennoch wurden sie nur selten namentlich erwähnt. So lassen sich in einem Mitarbeiter*innen-Verzeichnis der Schriftgießerei Klingspor von 1894 bis 1956 lediglich 64 weibliche von insgesamt 493 Namen finden. Erstmals aufgeführt wurden sie in einem Verzeichnis von 1906 bei den Buchbinderinnen.
Auch von dem Studium der Schriftgestaltung wurden Frauen lange Zeit systematisch ausgeschlossen. Dies ist heute zwar nicht mehr der Fall, aber die akademische Ausbildung wird FLINTA*-Personen in vielen Teilen der Welt noch immer durch hohe Kosten und veraltete Denk- und Verhaltensmuster erschwert. In der Lohnarbeit werden sie auch heutzutage noch mit genderspezifischer Diskriminierung konfrontiert, wie etwa dem Lohngefälle (Gender-Pay-Gap).
Ein Kampf um Anerkennung und Zugang
Die Arbeitsweise hat sich hingegen im großen Stil verändert: Für die Schriftgestaltung braucht es nun nicht mehr hunderte Mitarbeiter*innen in einer Gießerei, sondern eine Person an einem Computer. Doch heißt die Autonomie von der Skizze bis zum Betrieb nicht zwingend, dass der Beruf einfacher auszuüben ist, da der Zugang zu den Ausbildungen sowie Softwares mit erheblichen Hindernissen verbunden ist. Die Ausstellung zeigt, wie sich FLINTA*-Personen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts bis heute in der Typografie durchsetzen mussten und nur wenige von ihnen Anerkennung erlangten. Anna Simons, Erika Giovanna Klien oder Gudrun Zapf-von Hesse erhielten bereits zu ihren Lebzeiten Beachtung. Sie und Elizabeth Friedländer, Ilse Schüle, Anna Maria Schildbach, Maria Ballé wie auch zahlreiche Schülerinnen, deren Arbeiten als Schriftgestalterinnen im Klingspor-Archiv dokumentiert sind, werden nun in der Ausstellung in den Fokus gerückt.
Die Typografie ist bei Weitem nicht das einzige Feld, das unter der Glorifizierung des männlichen und dem Verkennen des weiblichen Genies leidet – und doch ist gerade die Schrift durch ihre vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten ein besonders wertvolles visuelles Zeugnis gesellschaftlicher Haltung. Mit dem Begriff „Stereotypografie" werden in der Designtheorie beispielsweise rassistische Ideologien kritisiert, die in klischeehaften (eben stereotypischen) Darstellungen von Schriften gezeigt werden. So zum Beispiel eine „Bambus“-imitierende Schrift, die im westlichen Raum oftmals mit dem Chinesischen assoziiert wird, aber nicht ansatzweise der reichen Geschichte und Kultur chinesischer Schriftzeichen gerecht wird, oder etwa arabische Schriftgestaltung, die in den westlichen Medien häufig mit religiösen Konflikten verbunden wird.
Schriften der Inklusion und Versöhnung
Denn Schrift kann und will genauso gut Inklusion statt Ausgrenzung sein. Ein Beispiel aus der Ausstellung wäre etwa das Gendersternchen, das alle Personen außerhalb des binären Geschlechtersystems inkludieren soll. Oder die Schrift Aravrit, die hebräische und arabische Buchstaben miteinander kombiniert. So können Sprecher*innen beider Sprachen Aravrit mühelos lesen. Wird eine der beiden Sprachen hingegen ignoriert bzw. nicht beherrscht, kann die Schrift und Bedeutung nicht länger entschlüsselt werden. Zum völligen Verständnis muss die Koexistenz der jeweils anderen Sprache also akzeptiert werden.
In der Ausstellung fallen auch die Untersuchungen der afrikanischen und kreolischen Diaspora von Émilie Aurat ins Auge. Die Künstlerin untersucht Schriftsysteme und numerische Werkzeuge in Hinblick auf ihre Integration in Unicode und damit einhergehenden sozialen Auswirkungen. So druckte Aurat das „Porträt einer Schwarzen Frau“ von Marie Guillemine Benoist (1800) auf Leinentextilien. Die kürzlich verstorbene Autorin und Dichterin Maryse Condé publizierte zu dem Porträt einen Text, den Aurat fragmentarisch in der Form von Druckcollagen mit Benoists Porträt kombinierte. Condé gilt als Symbol des Schwarzen Militantismus auf den kreolischen Inseln. Aurat widmet der Autorin diese Collage als eine Art Hommage im Zuge ihrer typografischen Studien zum afrikanischen Erbe.
An anderer Stelle befindet sich in einer Vitrine eine groß dargestellte Google-Suche für „women in type“, die Google mit „women types of underwear“ zu vervollständigen vorschlägt. Die Kurator*innen haben daraufhin Unterwäsche mit Schriftdesigns von Fabiola Mejía und Daytona Mess bedruckt, die nun an einem schwarzen Wäscheständer vor der Vitrine hängt. Weitere Positionen zeitgenössischer Designer*innen und Künstler*innen in der Ausstellung sind Nadine Chahine, Liron Lavi Turkenich, Flavia Zimbardi, Jin-Hoo Park, Ro Hernandez und viele mehr.
Zusammen bilden sie eine beeindruckende Auswahl vergangener und aktueller Schriftgestaltung, die im Dialog mit künstlerischen Positionen und einer außerordentlich kreativen und immersiven Ausstellungsgestaltung die bedeutende Rolle von FLINTA*-Personen in Schriftgestaltung und Typografie zementiert.
Wer sich selbst davon überzeugen möchte, kann die Ausstellung mitsamt ihres groß angelegten Rahmenprogramms noch bis zum 24. November im Klingspor-Museum in Offenbach besuchen.