Zu Oscar Wildes 170. Geburtstag am 16. Oktober ist in der Englischen Kirche Bad Homburg die Ausstellung „De Profundis“ der Frankfurter Künstlerin Chunqing Huang zu sehen. Inspiriert von dem Liebesbrief, den Wilde im Gefängnis für seinen Liebhaber verfasste, imaginiert sich die Künstlerin in den Entstehungskontext der berühmten Schrift hinein.

1897 richtete der inhaftierte Dichter Oscar Wilde einen langen „offenen“ Brief an seinen Liebhaber Lord Alfred Douglas. Drei Monate schrieb und revidierte er, bis das Ergebnis 80 dicht beschriebene Seiten umfasste. 1905 wurde er posthum als „De Profundis“ veröffentlicht. Darin rechnete er nicht nur mit Douglas – genannt Bosie und Grund für Wildes Inhaftierung – ab, er verzeiht ihm. Douglas' Vater hatte Wilde aufgrund der homosexuellen und im Viktorianischen England strafbaren Beziehung zu seinem Sohn angeklagt. Douglas selbst intervenierte nicht. Dieser Liebesbrief ist ein bewegendes Dokument, das Einblick gibt in Wildes Gedankenwelt am Ende seiner Gefängniszeit und nach einem gesellschaftlichen Fall, wie er tiefer nicht sein konnte. „De Profundis“ liest sich als Dialog Wildes mit sich selbst, als ein Sich-von-der-Seele-schreiben, eine – wie soll es aus seiner Feder anders sein – intelligente Analyse seines Gegenübers und seiner Selbst. Es ist ein Dokument „aus der Tiefe“ (de profundis), das trotz der düsteren Situation seines Autors, oder gerade deswegen, voll von Hoffnung ist und einen Mann erkennen lässt, der das Leben nach zwei Jahren Gefängnis mit ganz neuen Augen betrachtet.

Oscar Wilde, 1889, Foto: W. & D. Downey, Image via wikipedia.org

The most terrible thing about it [prison-life] is not that it breaks one's heart – hearts are meant to be broken – but that it turns one's heart to stone.

Oscar Wilde, „De Profundis“

Rechtzeitig zu Wildes 170. Geburtstag am 16. Oktober, ist in der Englischen Kirche Bad Homburg die Ausstellung „De Profundis“ zu sehen. Sie zeigt die gleichnamige neue Werkreihe der Frankfurter Künstlerin Chunqing Huang. Seit einigen Jahren setzt sich Huang mit Wildes Brief auseinander und die Ausstellung zeigt nun erstmals ein Zwischenergebnis, denn abgeschlossen ist die Auseinandersetzung mit ihnen noch lange nicht. Die Englische Kirche bietet einen passenden Ort. Oscar Wilde (wohlgemerkt Ire) weilte 1892 in Bad Homburg zur Kur – „to take the waters“ – und man kann vermuten, dass er die Englische Kirche besucht hatte.

Begrenzung als Ausgangspunkt

Die räumliche und seelische Enge nachzuempfinden, die Oscar Wilde im Gefängnis gefühlt haben muss, ist natürlich unmöglich. Doch nahm Huang die Aspekte der Enge, des begrenzten Raums, als Ausgangspunkt für ihr Arbeiten: auf ihrem Atelierboden klebte sie den Grundriss der Wilde'schen Gefängniszelle in Reading Gaol ab, etwa drei mal zwei Meter, und schuf in der Folge alle Bilder der Reihe in dieser „Gefängniszelle“.

Die Gefängniszelle von Oscar Wilde im Reading Gaol, 2016, image via wikipedia.org

Große Leinwände hatten darin keinen Platz, ausladende Pinselbewegungen waren unmöglich. Zu leicht wäre Huang an die imaginären Gefängnismauern gestoßen. Also: tropfen. Die 27 Leinwände, in der Ausstellung zu neun unkonventionellen Triptychen arrangiert, zeigen tiefschwarze getropfte Punkte auf einem groben grau-braunen und durchsichtig grundierten Leinwandstoff. Aus unterschiedlichen Höhen ließ Huang verdünnte Ölfarbe auf die Leinwände tropfen. Manchmal mit Hilfe eines Pinsels, manchmal mit zwei oder drei Pinseln gleichzeitig.

Schwarze Tränen, Trauer, Einschusslöcher?

Die tiefschwarzen Punkte, zufällig oder gar willkürlich auf der Leinwand verstreut, haben etwas Hypnotisierendes. Sind es Oscar Wildes schwarze Tränen? Sind es Einschusslöcher? Die Spuren eines symbolischen Abknallens einer Persönlichkeit, eines Rufs, eines Werks und letztlich einer Seele? Die Punkte sind so schwarz, dass man meint, in unzählige Schwarze Löcher unserer Galaxie gleichzeitig zu schauen. Sie sind abgrundtief schwarz, wie auch Bosies Charakter abgrundtief gewesen sein muss. Es ist ein Schwarz, das alles in sich aufsaugt und selbst einen schillernden Oscar Wilde in sich aufgesogen hätte. Schwarz ist natürlich auch – im christlichen Kulturkreis – die Farbe der Trauer. Trauer, die man beim Lesen seines Briefes und Schicksals nachempfindet.

Chunqing Huang, De Profundis, Installationsansicht, Englische Kirche Bad Homburg, 2024, Foto: Chunqing Huang
Chunqing Huang, De Profundis, Installationsansicht, Englische Kirche Bad Homburg, 2024, Foto: Chunqing Huang
Chunqing Huang, De Profundis, Installationsansicht, Englische Kirche Bad Homburg, 2024, Foto: Chunqing Huang
Chunqing Huang, De Profundis, Installationsansicht, Englische Kirche Bad Homburg, 2024, Foto: Thomas Steinforth

Huangs Bilder sind keine Illustration des Briefes Oscar Wildes, vielmehr diente er als Quelle der Inspiration. Die Künstlerin arbeitet nicht illustrativ, sondern assoziativ. Alle drei Leinwandformate sind an die Größenverhältnisse eines Blatt Papiers angelehnt. Und das Grau-braun der Leinwand? Vielleicht ist es das Herz, das zu Stein geworden ist, auch wenn ein Herz aus Stein nicht in der Lage gewesen wäre, solch einen Liebesbrief zu verfassen.

Porträt der Künstlerin: Wolfgang Stahr
Englische Kirche Bad Homburg

Chunqing Huang / De Profundis

Bis zum 10. November 2024

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