Fast auf den Tag genau zehn Jahre ist es her, dass Christoph Schlingensief, der große Regisseur und Aktionskünstler, verstorben ist. Nun endlich kommt Bettina Böhlers Dokumentarfilm in die Kinos.
Am eloquentesten und eindringlichsten konnte Christoph Schlingensief, sein jahrelanges Schaffen quer durch die Republik und über deren Grenzen hinaus immer noch selbst erläutern: „Das ist ja die Verwechslung bei mir, dass die Leute immer meinen, ich wolle ja nur provozieren. Aber als Sohn eines Apothekers – und das hab‘ ich schon oft gesagt: Mein Vater hat die Leute mit Mini-Portionen Gift geheilt, […] dadurch hat sich der Organismus quasi wieder selbst reguliert. Es ist also vier mehr eine Art Selbst-Provokation.“
Und jene Mini-Portionen Gift hat das 1960 in Oberhausen geborene „Enfant terrible der deutschen Kulturszene“ – wie er nach seinem viel zu frühen Tod im Alter von 49 Jahren immer wieder bezeichnet wurde – unerlässlich auf seine Umgebung losgelassen. In ihrem Debütfilm „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ gewährt die Filmeditorin Bettina Böhler, die in den 1990ern noch für den Schnitt seiner Filme verantwortlich war, einen umfangreichen Einblick in dessen Gedanken- und Schaffenswelt.
Dem Phänomen Schlingensief konnten auch Kunst-Desinteressierte nicht so leicht entkommen, wurden doch etliche seiner (Kunst)-Aktionen von einem großen Medienrummel begleitet und umfassend dokumentiert. Man erinnere sich beispielsweise an „Baden im Wolfgangsee“ der von Schlingensief gegründeten Partei „Chance 2000“ (Slogan „Scheitern als Chance!“). Sechs Millionen Arbeitslose wurden unter großem Mediengetöse zum gemeinsamen Badespaß im Wolfgangsee eingeladen. Das Versprechen: Wenn alle kommen, sollte der Wasserstand des Sees so hochsteigen, dass Helmut Kohls Ferienhaus in Sankt Gilgen überflutet werde.
Das ist ja die Verwechslung bei mir, dass die Leute immer meinen, ich wolle ja nur provozieren [...]
Oder der Besuch von Schlingensiefs wanderzirkusartiger „Church of Fear“ in Frankfurt, der zugleich auch noch den dritten „Internationalen Pfahlsitzwettbewerb“ markierte: -Lose Menschen (Arbeitslose, Konfessionslose, Obdachlose, Ratlose, Staatenlose etc.) sollten wie Heilige auf Pfählen ausharren, dem Geduldigsten wurden 3000 Euro Preisgeld in Aussicht gestellt (Slogan: „Angebot ohne Nachfrage“, „Win with your losers“, „Zugreifen! Arbeitslose kaufen!“). Ganz abgesehen von Schlingensiefs zahlreichen Spielfilmen, beispielsweise der zweite Teil seiner satirischen Deutschland-Trilogie, „Das deutsche Kettensägenmassaker“, die innerhalb weniger Wochen nach dem Mauerfall entstand: Eine Familie von „Wessis“ fängt an der ehemaligen Grenze „Ossis“ ab und verarbeitet sie sprichwörtlich zu Wurst (Slogan: „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“).
Bettina Böhler überlässt Schlingensief selbst das Wort
Die ganze Schaffenswut fassen in Bettina Böhlers Film nicht, wie sonst für vergleichbare Filme üblich, unzählige mehr oder minder bekannte Talking Heads zusammen. Vielmehr collagiert die Filmeditorin meisterlich Archivmaterial und überlässt Schlingensief selbst das Wort: etliche Interviewausschnitte (das Gros machen die überaus umfangreichen Gespräche aus, die der Künstler immer wieder mit Alexander Kluge geführt hat), Filmausschnitte, Theatermitschnitte, private Aufnahmen, Fernsehberichte.
Wir erfahren von Schlingensiefs Kindheit, ersten Filmdrehs mit acht Jahren, das Unbehagen vor der eigenen Familiengeschichte („Die Großmutter war eine geborene Goebbels, die Cousine der Cousine oder so“), Schmähbriefe an seine Familie und immer wieder die Auseinandersetzung mit Deutschland: Hitler, das NS-Regime, der Mauerfall, „Wir sind das Volk“-Rufe, die rassistischen Anschläge der 1990er, Möllemanns antisemitischer FDP-Wahlkampf, Abschiebedebatten. Nicht umsonst so auch der Untertitel „In das Schweigen hineinschreien“, der klar auf die deutsche Verdrängungsleistung rekurriert, die in der BRD sowie der DDR in Bezug auf den Nationalsozialismus lange Jahre vorherrschte.
Was hätte Schlingensief wohl heute zu sagen?
Böhler gelingt so ein anschaulicher wie auch überaus umfangreicher Einblick in das Leben und Schaffen Schlingensiefs. Am 24. Oktober 2020 wäre Christoph Maria Schlingensief 60 Jahre alt geworden. Zu Beginn des Films sieht man ihn Pläne machen für 2030, 2040 und „hoff‘ ich mal – 2050“. Beim Sehen von „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ mag der ein oder andere feststellen, wie sehr man dessen gesellschaftliche Kritik, seine Eloquenz und seinen Humor, die Assoziationsketten wie auch Fähigkeit zur Selbstkritik vermisst haben mag und sich fragen, was Schlingensief, der mit seiner Kritik in so vielen Punkten ein treffsicherer Seismograf seiner Zeit war, wohl heute zu sagen hätte.