Schon früh erkannte der STURM-Galerist Herwarth Walden ihr Genie: Künstlerin Marianne von Werefkin hatte die Zügel des Blauen Reiters fest in der Hand und trotzte Schicksalsschlägen und Weltkrieg.

Die Frau auf dem Bild ist jung, vielleicht 25. Und doch war die aus dem russischen Hochadel stammende Marianne von Werefkin bereits 49 Jahre alt, als ihre Freundin und Mitstreiterin Gabriele Münter sie 1909 malte. All jene, die sie porträtierten, zeigten sie als junge Frau. Sie war die pulsierende Energie, die alle anderen um sie herum antrieb und ihnen den Mut zur Modernität gab: Jawlensky, Kandinsky, Münter, Marc, Erma Bossi. So bezeichnet Else Lasker-Schüler sie bereits 1913 als die „Blaue Reiter-Reiterin“: Werefkin hatte die Zügel der Künstlergemeinschaft fest in der Hand.

Der Geniekult des 19. Jahrhunderts

Doch lange Jahre traut sich Marianne von Werefkin, die ab 1880 Privatschülerin von Ilja Repin, dem bedeutendsten russischen Realisten war, und die 1886 den Ehrentitel eines „Russischen Rembrandts“ erhielt, keinen Pinsel mehr in die Hand zu nehmen. Bei ihrem Lehrer Ilja Repin lernt die zweiunddreißigjährige Werefkin den vier Jahre jüngeren Alexej Georgijewitsch Jawlensky kennen. Sie entflammt für den mittellosen aber talentierten Leutnant und projiziert ihren Schaffensdrang in ihn:

Ich bin Frau, bin bar jeder Schöpfung. Ich kann alles verstehen und kann nichts schaffen … Mir fehlen die Worte um mein Ideal auszudrücken. Ich suche den Menschen, den Mann, der diesem Ideal Gestalt geben würde. Als Frau, verlangend nach demjenigen, der ihrer inneren Welt Ausdruck geben sollte, traf ich Jawlensky … In Jawlensky meinte ich sie erschaffen zu können … Rein göttlicher Wunsch. Auf Erden nicht erfüllbar.

Marianne von Werefkin

Frönte sie dem Geniekult des 19. Jahrhundert, klammerte sie sich an ein bürgerliches Rollenmuster? Ihr Schicksal erinnert an das der Bildhauerin Gela Forster, deren künstlerische Tätigkeit nach der Heirat mit Alexander Archipenko zum Erliegen kam. Oder an das der Malerin Minna Tube, von der Max Beckmann verlangte, keinen Pinsel anzufassen, solange sie mit ihm verheiratet sei. Erst nach etwa acht Jahren fängt Marianne von Werefkin, zunächst heimlich, wieder an zu malen und sich von ihrem Irrglauben zu lösen:

Ich habe die Hölle in meiner Seele. Ich habe mir selbst nicht vertraut, und deshalb ist mein Leben zum Teufel gegangen. Ich habe eine schöpferische Seele und bin dem Nichtstun verfallen. … Ich bin zur Hure geworden und zur Küchenmagd, zur Krankenpflegerin und Gouvernante, nur um der großen Kunst zu dienen, einem Talent, das ich für auserwählt hielt, das neue Werk zu verwirklichen. Was habe ich aus mir gemacht?

MARIANNE VON WEREFKIN
Marianne von Werefkin, Steingrube / Stone Pit, 1907, Privatsammlung / Private collection, Wiesbaden

Zunächst zieht Werefkin 1896 mit Jawlensky und ihrer jungen Zofe Helene Nesnakomoff, die 1902 Jawlenskys Sohn zur Welt bringen wird, nach München. Hier nimmt sich Werefkin eine große Doppelwohnung in der Giselastraße 123 in Schwabing, wo sie einen einflussreichen Salon veranstaltet und die kosmopolitische Avantgarde ein und ausgeht.

Die Selbstbezüglichkeit der Kunst

Bevor sie die Malerei wiederaufnimmt, hält Werefkin in ihren 1901 begonnenen „Lettres à un inconnu“, den Briefen an einen Unbekannten, ihre ästhetischen Ideen fest. Wohl zeitgleich mit den Pariser Fauves entdeckte sie 1905 den ebenso „autonomen“ wie „strukturierenden“ Wert der Farbe. Sie lehnte das l’art pour l’art, die Selbstbezüglichkeit der Kunst ab:

Aufgabe der Kunst ist, bei der Menschheit neue ästhetische und ethische Werte durchzusetzen. … Wer in der Kunst nichts Persönliches zu sagen hat, sollte lieber schweigen.

Marianne von Werefkin
Marianne von Werefkin, Selbstbildnis I, um 1910, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München

1909 gründet sie zusammen mit Wasily Kandinsky, Gabriele Münter und Alexej Jawlensky die Neue Künstlervereinigung München, aus der zwei Jahre später der Blaue Reiter hervorgehen wird. Ab 1912 wird sie zu einer der namhaften STURM-Künstlerinnen. Ihr Bild „Herbstidyll“ gefällt ihrem Galeristen Herwarth Walden derart, dass er es nicht nur ausstellt sondern das Motiv auch zu einer STURM-Postkarte macht, mit der er für seine Künstlerin und seine STURM-Galerie Werbung betreibt.

Ein Glücksversprechen am Horizont

1913 reist Werefkin – wohl um Abstand von ihrer Beziehung zu Jawlensky zu gewinnen – nach Litauen und Russland. Hier entsteht das Bild „Stadt in Litauen“. Ein unruhiges Bild, das in seiner Komposition an Gemälde Edvard Munchs erinnert. Das Bild wirkt wie zerzaust. Mühsam schleppt sich ein altes Mütterchen die windige, vereiste Straße entlang. Die Bäume links sind vom Winde gebeugt, die rote Tür rechts wie ein Segel gebläht. Allein die im Sonnenlicht aufscheinende Stadt im Hintergrund ist wie ein Glücksversprechen.

Marianne von Werefkin, City in Lithuania, 1913/14, Fondazione Marianne Werefkin, Museo Comunale d'Arte Moderna, Ascona

1914 bricht der Erste Weltkrieg aus und Werefkin und Jawlensky müssen, da sie als feindliche Ausländer eingestuft werden, binnen 24 Stunden Deutschland verlassen, zunächst unterstützt von dem befreundeten Maler Cuno Amiet. Schließlich finden sie Schutz in Ascona in der Schweiz.

Nie wieder ein Wort

Das Bild „Der Lumpensammler“ von 1917 evoziert einen poetischen und emotionalen Zustand zwischen persönlicher Lebenskrise und Weltkrieg. Der dürre, ausgemagerte Lumpensammler könnte eine Ahnung der Malerin sein. Das dunkle Wasser verkündet nichts Gutes, darauf, verloren und einsam, ein Ruderboot. Die Mauer aus Bergen im Hintergrund erzittert wie Wackelpudding vor dem, was dahinter passiert, der Himmel färbt sich schwefelgelb.

Marianne von Werefkin, Le Chiffonier (Der Lumpensammler) (1917), via kunstkopie.de

1920 nimmt Werefkin mit einigen Bildern an der Biennale von Venedig teil. Und sie reist, zum ersten und letzten Mal seit dem Krieg, nach Deutschland. Sie muss ihre Wohnung in München auflösen, denn nach der Oktoberrevolution ist ihre zaristische Rente hinfällig geworden, mit der sie auch Jawlensky und seinen Sohn stets finanzierte. Und sie besucht ein letztes Mal Herwarth Walden in seiner STURM-Galerie, der ihre Bilder dort 1921 zur 100. STURM-Ausstellung zeigt. Jawlensky aber findet in Emmy Schreyer, der Tochter eines Wiesbadener Industriellen, seine nächste Gönnerin und heiratet 1922 schließlich Werefkins ehemalige Zofe Helene. Werefkin wird nie wieder mit ihm reden und weist künftig seine finanzielle Unterstützung ab. Mühsam schlägt sie sich mit Postkarten- und Plakatmalerei sowie der Hilfe von Freunden durch. Das hindert sie nicht, 1924 mit sechs Asconaer Künstlern, darunter Otto van Rees, die internationale Künstlergruppe „Großer Bär“ sowie das Museo Communale di Ascona mitzugründen. 1938 stirbt die Künstlerin in Ascona und wird nach russisch-orthodoxem Glauben beigesetzt.