Ob als SciFi-Utopie im Kontext der Gig-Economy oder dokumentarische Auseinandersetzung mit dem Scheinstaat Liberland: Die Werke von DOUBLE FEATURE-Künstler Johannes Büttner zeigen, dass Zukunftsentwürfe noch so verschieden sein können, sie bleiben stets aufs Engste mit den Realitäten des Kapitalismus verbunden.

„A whole world of freelance talent at your fingertips“, so bewirbt der virtuelle Markplatz Fiverr sein Geschäftsmodell, bei dem man ab ein paar Euro Videogame-Design, Voicerover, Unternehmensberatung, Ghostwriting, Übersetzungen und all das, was sonst noch unter das große Schlagwort „Content Creation" fällt, per Mausklick kaufen kann. Unter dem Schlagwort „Gig-Economy“ hat sich in der letzten Dekade weltweit ein ganzer Wirtschaftszweig entwickelt, in der Selbstständige ihre Arbeitskraft über dergleichen Portale anbieten. In der Regel begleitet durch Abgabe eines zweistelligen Prozentsatzes Vermittlungsgebühr an die Plattformbetreiber, kaum Arbeitsschutz und generell eher prekäre Arbeitsverhältnisse. 2019 beschäftigte sich Johannes Büttner im Rahmen seiner Solo-Ausstellung „Wenn ich nicht hier bin, bin ich auf’m Sonnendeck“ genauer mit ebenjener Gig-Economy. In Zusammenarbeit mit sechs Gigworkern, die in China, Indonesien, Nigeria, Tunesien, Indien und Südafrika leben, entstand die Videoinstallation „The Factory“ (2020).

Auf der Suche nach dem nächsten Gig

Im Rückblick berichten die globalen digitalen Tagelöhner*innen hier im konsequenten Smartphone-Hochformat von ihren Lebensumständen, die sie in die Gig-Economy trieben: Schulden, familiäre Notsituationen, keine berufliche Perspektive vor Ort. Und natürlich die Arbeitsbedingungen, mit denen sie es hier zu tun hatten: immer auf Abruf auf der Suche nach dem nächsten Auftrag, den nächsten Gig zu sein, wird zur psychischen Belastung, die auch bald körperliche Auswirkungen hat. Allein: in Büttners „The Factory“ begehren die prekären Arbeiter*innen ganz im Sinne einer SciFi-Utopie mittels einer technologischen Erfindung gegen die Umstände auf und organisieren sich weltweit. Also alles wunderbar? Vielleicht nicht so ganz, wie der Künstler im Interview mit dem Onlinemagazin Passe-Avant selbst einwendet: „Schnell wird deutlich, wie sehr ihre [der Arbeiter*innen] Vorstellung von Zukunft, Fortschritt und Utopie durch das Sein im Kapitalismus geprägt sind. Arbeit und Produktivität spielen in jeder Schilderung der Utopie eine essenzielle Rolle: ‚Everyone wants to create‘ ist so ein prägnanter Satz aus dem Video, bei dem mir immer kurz schlecht wird, weil ich mich ertappt fühle.“

Johannes Büttner, Filmstill "The Factory", 2020, © Johannes Büttner
Johannes Büttner, Filmstill "The Factory", 2020, © Johannes Büttner

Auch Büttners neue Videoarbeit „Terra Nullius“ (2024) dreht sich, dieses Mal in dokumentarischer Form, um alternative Gesellschaftsentwürfe, die sich eindeutiger als Dystopie beschreiben ließen. Hier bereist der Künstler die selbsternannte Freie Republik Liberland, ein international nicht anerkannter Scheinstaat auf einem unbewohnter Stück Land, das von Kroatien verwaltet wird, aber eigentlich serbisches Staatsgebiet ist.  Wie man in „Terra Nullius“ schnell erfährt, zieht der Pseudostaat, dessen erklärter Staatszweck die Schaffung einer Steueroase ist, von selbsternannten Ex-Faschist*innen, Verschwörungsideolog*innen, Xenophoben, irgendwie Alternativen, Anarcho-Kapitalist*innen bis hin zu gesellschaftlich Abgehängten ein bizarres Potpourri an Personen an, die unzufrieden mit dem jeweiligen staatlichen wie auch gesellschaftlichen Status quo sind.

„Terra Nullius“ lässt nahezu kommentarlos dessen Bewohner*innen – eine Staatsbürgerschaft kann man für 10.000 US-Dollar kaufen – zu Wort kommen. Die wollen hier entweder mittels Blockchain-Technologie steuerfrei Geld verdienen, versprechen sich unbegrenzte Freiheit oder suchen aus Angst vor vorgeblich staatlicher Bevormundung oder „Überfremdung“ einen eskapistischen Rückzugsort. Bereits kurz nach der „Staatsgründung“ hatten sich weltweit über 300.000 Menschen aus über 184 Ländern für einen Pass Liberlands beworben. Das nötige Imagevideo zum Unterfangen steuerte niemand geringeres als das Architekturstudio von Zaha Hadid bei, das für die Simulation des Liberland-Metaverse gewonnen werden konnte – hier ebenfalls Teil der Filmarbeit.

Johannes Büttner, Filmstill "Terra Nullius", 2024, © Johannes Büttner
Johannes Büttner, Filmstill "Terra Nullius", 2024, © Johannes Büttner

So diametral entgegengesetzt die gesellschaftlich imaginierten Utopien in Büttners Arbeiten auch sein mögen, beide erlauben einen kundigen Einblick in die absolute Verwobenheit dieser Traumbilder in die Realitäten des Kapitalismus, dem sie nicht entkommen können. Ähnlich vielleicht, wie es der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher, auf den sich der Künstler an anderer Stelle bezieht, einst über aktuelle politische Strömungen formulierte: „Die Stimmung, die Trump und der Brexit eingefangen haben, ist die Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen Realismus. Es ist jedoch nicht der Kapitalismus, der in diesen unfertigen Revolten abgelehnt wird, sondern der Realismus.“

Glasfaserkabel und Asylverfahren

Als weiteren Film hat sich Johannes Büttner „Please hold the line - How to get through" (1995) der Gruppe „Keine Verbindung e.V.“ ausgesucht. Der Film, der sich selbst zu Beginn als „Lehrstück mit dokumentarischen Elementen, Originalaufnahmen und natürlich viel Musik“ bezeichnet, lässt sich als eine Art Bekennerschreiben der Aktivist*innen-Gruppe bezeichnen, die 1995 einen Anschlag auf das Glasfaserkabelnetz der Telekom im Frankfurter Stadtwald, nahe dem Flughafen, verübte.

Johannes Büttner, Filmstill "Terra Nullius", 2024, © Johannes Büttner
Johannes Büttner, Filmstill "Terra Nullius", 2020, © Johannes Büttner

Der Anschlag habe vor allem dem Asylverfahren auf dem Flughafen gegolten, so der damalige Frankfurter Polizeisprecher. In einem Außengebäude des Flughafens wurden Asylsuchende im exterritorialen Transitbereich festgehalten, und in einem sogenannten Schnellverfahren durch Bundesgrenzschutz-Beamt*innen, die ihrerseits keine spezielle Ausbildung im Asylrecht hatten, in der Regel innerhalb weniger Tage wieder abgeschoben. Ausschnitte im Film zeigen die desaströsen Zustände vor Ort, andere die Gegenwart im gerade wiedervereinten Deutschland: mehrtägige Pogrome gegen Migrant*innen und Asylsuchende in Rostock-Lichterhagen, derweil Polizei und Politik untätig zuschauten; ein rechtsextremer Mordanschlag in Solingen, dem fünf Menschen zum Opfer fielen. Die Schäden am Glasfaserkabel wurden indes von der frisch gegründeten Telekom, deren alleiniger Aktionär damals der deutsche Staat war, innerhalb kürzester Zeit wieder behoben.

Johannes Büttner, Foto: Neven Allgeier

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