Stereotypen liegen dem Künstler Wolfgang Tillmans fern, in seinen Fotos interessiert er sich vor allem für den Menschen als vielseitiges Individuum.
Abertausende Fotografien von Partys und vom Alltag, von Exzess und von (scheinbar) Gewöhnlichem, von Menschen, ihren Kulturen und Subkulturen sind heute verfügbar. Täglich werden sie mehr. Der Zweiklang von Digitalfotografie und Internet gebiert eine Omnipräsenz des Visuellen; angetrieben vom Drang, alles festzuhalten und zu teilen. Mal sind es vor der Kamera die Freunde, Partygäste, übrig gebliebene Objekte – Relikte einer zu Ende gegangenen Nacht. Mal ist es der Fotografierende selbst, den seine Kamera verewigt hat. Sie alle drehen sich um das, was sie darstellen: um sich selbst.
Wenn Motive hier ihre Wurzeln haben, was unterscheidet dann im Einzelnen Fotografien des Alltags, des Lebens und Seins von- und untereinander? Wann sind sie Kunst und wann sind sie bloße Dokumentation eines Amateurfotografen? Keine klare Definition kann hier bei der Antwort-Findung helfen. Und doch mutet manchen unzweifelhaft der Kunstcharakter an – ganz ohne die „Hilfe“ von musealen Wänden. Wolfgang Tillmans’ Fotografien gehören zu eben solchen. Denn die Fotografie ist Tillmans’ Kommunikationsmittel, sein Auge und seine nicht nur künstlerische Sprache: „Mit meinen Bildern will ich meine Gedanken über die Welt ausdrücken.“
Wolfgang Tillmans ist ein Gesellschaftsfotograf, doch entgegen Vorreitern wie etwa August Sander liegt ihm deren reine Dokumentation vollkommen fern. Kein Stereotyp, sondern als in sich selbst vielseitiges Individuum steht der Mensch in Tillmans’ Fotografie als einzigartiger Teil eines Ganzen da, zu dem auch der 1968 in Remscheid geborene Fotograf gehört. So steht der Mensch für sich und doch ist er insbesondere in seinen Porträts, die keine Porträts im klassischen Sinne sind, zugleich Ausgangspunkt für viel mehr: „Ich glaube, Porträts sind immer dann besonders interessant, wenn sie über die Person des Abgebildeten hinaus allgemeinmenschliche Aussagen treffen“, betont der zwischen London und Berlin pendelnde Künstler.
„Mit Aussagen meine ich jetzt nicht klare Interpretationen, sondern Tendenzen, Gefühle, Befindlichkeiten. Das, was ich versuche in meinen Porträts zu erreichen, ist auf der einen Seite, die Person so darzustellen, wie ich sie empfinde, und auf der anderen Seite in der Person den Menschen an sich zu sehen.“ Die Ästhetik, mit der Tillmans das Leben, das In-der-Welt-Sein festhält, ist ebenso sexuell oder spirituell geprägt wie politisch und gesamtgesellschaftlich ambitioniert. Dieses Wechselspiel, in dessen Zentrum sich das Porträt bewegt, prägt seit nunmehr 20 Jahren die Arbeit des Fotografen – seien es seine Bilder der Sub- und Popkultur aus Bournemouth, London, Berlin, Hamburg und New York, von Freunden ebenso wie von Fremden, von Stars oder von ihm selbst.
So zum Beispiel auch in seinem Selbstporträt „Lacanau (self)“ von 1986, das aktuell in der Ausstellung „ICH“ in der SCHIRN zu sehen ist. Ein Bild wie das eines zufälligen Schnapsschusses, aufgenommen in der titelgebenden französischen Gemeinde in der Nähe von Bordeaux. Der Fotograf inszeniert sein Selbstbild als Detailaufnahme: Sand zu seinen Füßen, ein Ausschnitt der schwarzen Shorts, die gerade so den Hersteller preisgeben, ein rosa verwaschenes Stück Stoff deutet das T-Shirt an. Das Ich trifft Lacanau. Das Ich in Lacanau. So gibt es der Titel vor. Aber auch: Ein Fragment steht stellvertretend für das ganze Selbst. Ist es die Umgebung, die es formt, oder gar die Kleidung? Oder ist es vielmehr die Perspektive, nämlich die des Fotografen, durch dessen Augen der Betrachter hier blickt, die dem „self“ seine Daseinsberechtigung in dem Titel von Tillmans’ Arbeit geben?!
Von dem Künstler selbst ist keine Antwort zu erwarten. Doch genau hier liegt auch der Anspruch – der von Martina Weinhart kuratierten Ausstellung „ICH“ ebenso wie Wolfgang Tillmans’ selbst: „Man sollte selber in der Lage sein zu entscheiden, was hässlich und was schön ist, was akzeptabel ist und was nicht. Das ist vielleicht eine unterschwellige Grundaussage, die ich treffen will“. Denn nicht klassische Definitionen, vorgefertigte Sichtweisen oder Lösungen soll der Betrachter vorfinden. „Ich habe immer das Anliegen, mit meiner Sehweise hoffentlich andere Leute zu ermutigen, ihren Augen zu trauen und die Wahrheit oder das Leben zu ertragen.“
Dass der Künstler seine eigenen Aussagen beim Wort nimmt, zeigt auch sein neues Projekt: Sein Ausstellungsraum „Between Bridges“ in Berlin wird von nun an ein Forum sein, in dem sich die Kunst politisch und sozial engagiert. Für die Integration von Flüchtlingen, für ein gegenseitiges Verständnis und Kennenlernen, gegen die zunehmende Lautstärke rechter Stimmen. Hier kehrt Tillmans zu seinen Grundfesten zurück – seine Kunst als gesellschaftlich, als sozial und mitunter politisch zu verstehen – und versucht damit, die Zukunft mit Hilfe einer Kunst-Community mit zu formen. Auf ein erstes Event folgt am 21. April ein Gespräch Wolfgang Tillmans’ mit der Kreuzberger Kunsttherapeutin sowie Autorin Gülây Akın, die über ihre Arbeit als Aktivistin und mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sprechen wird. Weitere Informationen können auf betweenbridges.net nachgelesen werden.