In Japan praktiziert man Shinrin Yoku seit Jahrzehnten, mittlerweile ist der Trend auch in Deutschland angekommen: Ein Erlebnisbericht übers Waldbaden und unsere anhaltende Sehnsucht nach Natur.
Ein früher Sonntagmorgen im November, 7 Grad und trüber Himmel. Ich stehe am Rande Berlins im Düppeler Forst mit geschlossenen Augen an den Stamm einer alten Buche gelehnt. Rinnsale aus Regentropfen laufen mir die Wangen hinab, ein feuchter, erdiger Geruch steigt aus dem Waldboden auf, der in dieser Jahreszeit von Moos und einer dicken Schicht bunter Blätter überzogen ist. In der Ferne klopft ein Specht energisch gegen einen Baum. „Was kannst du riechen, hören, fühlen, schmecken?“ flüstert Lia Braun in die Runde.
Ich greife blindlings in den weichen Boden, ziehe ein Stück Rinde hervor, reibe sie mit den Fingern, schnuppere daran, lecke dann sogar etwas zaghaft an meinem Finger – und komme mir dabei etwas seltsam vor. Zwölf Leute sind an diesem Morgen hier hinaus gekommen, „jwd“, wie man in Berlin so schön sagt: „Janz weit draußen“ in die Nähe von Wannsee und Pfaueninsel, der Bus fährt nur einmal stündlich. Eingepackt in mehrere Schichten aus Wollpullover und Wintermantel, Wanderstiefeln und Skisocken stehen wir gemeinsam im Unterholz und nehmen einfach nur wahr.
In Japan gehört „Shinrin yoku“ zum staatlichen Gesundheitsprogramm
Was für uns in Deutschland ein neuer Trend ist, praktiziert man in Japan schon länger: 1970 wurde der Akasawa-Wald zum ersten „natürlichen Erholungswald“ deklariert, seit Anfang der 80er gehört „Shinrin yoku“ - was wörtlich übersetzt „Baden in der Waldluft“ heißt - zum staatlichen Gesundheitsprogramm.
Doch erst seit Wissenschaftler in mehreren Ländern vor ca. 15 Jahren begannen, die Heilkraft der Natur zu erforschen und die positiven Auswirkungen des Waldbadens - u.a. gesenkter Blutdruck, erhöhte Gedächtnisleistung, gestärktes Immunsystem und geringere Anfälligkeit für Stress und Depressionen - mit Studien zu verfestigen, bekommt das Thema Aufmerksamkeit in Deutschland. Dafür gleich umso mehr: Über 20 Bücher sind in den letzten Jahren allein auf dem deutschsprachigen Markt zu Shinrin yoku erschienen, das Angebot an Workshops und Ausbildungen wächst und seit 2016 gibt es auf Usedom sogar den ersten offiziellen Kur- & Heilwald Europas.
Es ist schön, dass die Aufmerksamkeit für das Thema wächst.
Die steigende Popularität von Naturthemen scheint den Erschöpfungszustand unserer Gesellschaft, die sich nach einem tiefen Gefühl von Ruhe und Frieden sehnt, widerzuspiegeln. „Es ist schön, dass die Aufmerksamkeit für das Thema wächst“, sagt Psychologin und Naturtherapeutin Lia Braun, die regelmäßig Waldbaden-Seminare in Berlin durchführt. Doch es brauche nicht unbedingt einen ausgewiesenen Heilwald: Viele Menschen spürten eine tiefe Sehnsucht nach erfahrbarer Verbundenheit, die wir womöglich als Kinder kennengelernt, dann aber wieder verloren hätten. Dass sich dieses Bedürfnis in den selbst gestalteten Begegnungen mit der Natur erfüllen kann, das erlebe sie in ihren Seminaren immer wieder. Und dazu reiche auch ein Stadtwald.
Wann habe ich zum letzten Mal so genau hingeschaut?
Auch ich kann mich dieser Wirkung nicht entziehen. Nach der ersten Wahrnehmungsübung laufen wir weiter durch das Unterholz; doch tun wir das wie in Zeitlupe, um uns auf alles konzentrieren zu können, „was sich bewegt“, so Lia Braun. Das sind nicht nur die mittlerweile spärlich begrünten Baumkronen, die zart im Wind flattern; es krabbelt und wuselt auf dem Waldboden vor Spinnen und Käfern, es fallen Tautropfen von den Ästen auf die am Boden liegenden Blätter und katapultieren sie in die Höhe.
Ich bleibe mit der Aufmerksamkeit an einem kleinen Zweig hängen, der mit einer pastellgrünen Schicht aus Moos und Flechten überzogen ist und an dem ich mich kaum sattsehen kann. Wann habe ich zum letzten Mal so genau hingeschaut, hingefasst, hingeschnuppert? Nach jeder Übung geben wir in der Runde unsere Erlebnisse wieder und es zeigt sich: selbst die anfänglichen Skeptiker sind berührt.
Der Wald ist seit jeher ein Ort der Märchen, Mythen und Geheimnisse
Der Wald ist, vor allem in unserem Kulturkreis, seit jeher ein Ort der Märchen, Mythen und Geheimnisse. Die Kelten und Germanen lebten mit ihm in Einklang, in der nordischen Mythologie verkörpert die Esche Yggdrasil den gesamten Kosmos und bei den Griechen der Antike waren Aufenthalte in der Natur Bestandteil der medizinischen Behandlung. Auch die Romantiker waren von der Unergründlichkeit des tiefen Waldes fasziniert, prägten den Begriff „Waldeinsamkeit“ und praktizierten die zurückgezogene Kontemplation unter Baumkronen. Doch der moderne Mensch scheint die Verbindung zur Natur zugunsten einer rationalen Technologisierung seiner Umwelt verloren zu haben. Wir gehen selten in den Wald und wenn, dann für einen einfachen Spaziergang oder körperliche Ertüchtigung auf einem Trimm-Dich-Pfad.
Wir müssen immer funktionieren, produktiv sein, Geld verdienen – für die bewusste Kontemplation unserer Umwelt bleibt da kein Raum. Aber die Sehnsucht nach Ruhe und der Trend hin zu mehr „Achtsamkeit“ ist da, ob bewusst oder unbewusst. Wenn es Ratgeber und Seminare braucht, um den Kontakt mit der Natur und somit auch mit sich selbst wiederherzustellen, dann ist das nur zu begrüßen. Als wir nach knapp drei Stunden zwischen Birken und Buchen in der Abschlussrunde gemeinsam Tee trinken, den Lia Braun aus vor Ort gesammelter Schafgarbe und Pimpernelle gekocht hat, bin ich durchgefroren und nass – und erfüllt von einer inneren Ruhe und Zufriedenheit, die ich in meinem durchorganisierten Alltag mitten in der Stadt zu selten spüre.