Sie ist nicht nur Künstlerin, sondern auch Aktivistin. Mit ihren Skulpturen entwirft Lin May Saeed hybride Wesen und setzt sich intensiv mit Tierbefreiung auseinander. Ein Atelierbesuch.
Lin May Saeed empfängt mich in ihrem Berliner Atelier. Draußen ist schon Herbst. Wir machen es uns bei einer Tasse warmem Getreidekaffee mit Kardamon und Kokosschokolade gemütlich. Plötzlich ein Scharren unter dem großen Tisch, an dem wir sitzen: Da schlummern zwei junge Kaninchen. Lin May Saeed hat die beiden aufgenommen. Das Muttertier sei aus einer aufgelösten Kaninchenzucht auf dem Land gerettet worden, als es noch schwanger war, erzählt sie.
Einen Teil der Zeit verbringen sie nun hier im Atelier, einen anderen auf dem Land, mit viel Auslauf auf einer Wiese. Das Recht der Tiere auf Leben: Das ist das große Thema Lin May Saeeds, im Alltag und in der Kunst.
Mit figurativen Skulpturen thematisiert sie das Recht der Tiere auf Leben
An der Akademie in Düsseldorf entdeckte sie die Skulptur für sich. Bei ihrer ersten bildhauerischen Arbeit modellierte sie einen Tierkopf. „Gegen Ende der Neunzigerjahre kam die Pelzmode gerade wieder auf. In der Modestadt Düsseldorf war das sehr spürbar“, erzählt Lin May Saeed. Sie begann Flugblätter zu verteilen und lernte andere AktivistInnen kennen. Bei Tierschutzkongressen sah sie verdeckt gefilmtes Material aus Tierversuchslaboren, hörte einen Vortrag des US-amerikanischen Tierrechtsphilosophen Tom Regan, der mit „The Case for Animal Rights“ 1987 ein Grundlagenwerk für die Bewegung vorgelegt hat. Die Rechte der Tiere und ihr Verhältnis zum Menschen wurden zum Thema ihrer figurativen Bildhauerei, der meist in Gruppen arrangierten Tierskulpturen, der Scherenschnitte und Stahlarbeiten.
Im Atelier stehen Vorstudien für eine in weißer Bronze gefasste Arbeit im Skulpturenpark Köln und für eine Gruppe Skulpturen, die diesen Sommer im Londoner Kunstraum Studio Voltaire zu sehen war. Es sind meist formal wie provisorisch angelegte, teils hybride, nicht auf den ersten Blick deutbare Wesen, in die die Künstlerin ihre Recherchen einfließen lässt.
Was fehle, sei die Perspektive auf Frauen
Recht sei ja ein abstrakter Begriff, sagt Lin May Saeed, und gar nicht so einfach in gegenständliche Kunst zu überführen. Als sich die Tierrechtsbewegung in „Tierbefreiungsbewegung“ umbenannte, habe sie sich sofort Bilder vorstellen können. Diese seien auch in die Serie von Stahlarbeiten eingeflossen, aus der zwei Arbeiten jetzt in der SCHIRN-Ausstellung WILDNIS zu sehen sind. Lin May Saeed hat sie selbst im Atelier mit einer Schweißanlage hergestellt. Sie sind an Fotodokumente von Tierbefreiungen angelehnt, wie Lin May Saeed sie in Zeitschriften gefunden hat.
Allerdings seien dort meist männliche Tierbefreier mit einem Hund auf dem Arm zu sehen. Was fehle, sei die Perspektive auf Frauen, und das, obwohl es sehr viele Frauen in der Bewegung gebe.
Außerdem fehle die Perspektive auf Nutztiere, wie das Schwein, sagt sie. „Jedes Tier, selbst die Zuchtsau, die ihr Schicksal mit Millionen anderen teilt, hat eine eigene Biografie.“ Beides übertrug Lin May Saeed in ihr Motiv „The Liberation of Animals from their Cages XVII/Woman with Pig“ (2015): Eine vermummte Frau rennt mit einem Schwein auf dem Arm durch eine Tür, auch das Befreiungswerkzeug, ein Bolzenschneider, ist zu sehen. Das zweite Motiv, „The Liberation of Animals from their Cages XVIII/Olifant Gate“ (2016) zeigt die Befreiung eines indischen Elefanten.
Jedes Tier, selbst die Zuchtsau, die ihr Schicksal mit Millionen anderen teilt, hat eine eigene Biografie.
Lin May Saeed liest regelmäßig Zeitschriften der Tierbefreiungsbewegung, Publikationen zur Tierphilosophie und den Human-Animal Studies, die sich erst kürzlich als eigenständiges wissenschaftliches Feld etabliert haben. Ein alter, mit hinter Glastüren hervorblitzenden Büchern, Ordnern und Farbtuben gefüllter Holzschrank steht gleich neben dem Tisch in ihrem Studio. Lin May Saeed zieht einige Bücher und Magazine heraus. Wir sprechen über wichtige Texte der Bewegung, wie „Animal Liberation“ von Peter Singer, mit dem er 1975 die moderne Tierrechtsbewegung mit ausgelöst hat. Neuere Text befassen sich zum Beispiel mit „Speziesismus“, also der Unterdrückung von Tieren analog zu Formen der Diskriminierung wie Rassismus oder Sexismus, ein Begriff, der auch im Kunstbereich in letzter Zeit häufiger diskutiert worden ist.
An den Glastüren des Bücherschranks und an den Wänden hängen jede Menge gefundene Fotografien und Zeichnungen von einer Art Wildhund, auf die ich schon länger schaue. Was das wohl ist? „Tüpfelhyänen!“ ruft Lin May Saeed. „Ein unglaublich interessantes Tier. Der einzige große Räuber, der im Matriarchat lebt. Und gleichzeitig einer der aggressivsten Jäger des Tierreichs. Das rangniedrigste Weibchen steht immer noch höher als das ranghöchste Männchen. Anatomisch können Biologen weibliche und männliche Tiere gar nicht unterscheiden, erst durch eine Blutanalyse.“ Auch in der Ausstellung im Studio Voltaire war die Skulptur einer solchen Tüpfelhyäne zu sehen.
Sie ist nicht nur Künstlerin, sondern auch Aktivistin
Beim Anblick der Tüpfelhyänen und natürlich, weil Lin May Saeed in Düsseldorf studiert hat, muss ich an Joseph Beuys denken. 1974 führte er in New York seine berühmte Aktion „I like America and America likes Me“ durch und ließ sich mehrere Tage lang zwar nicht mit einer Tüpfelhyäne, aber mit einem Koyoten in einer Galerie einschließen.
Ob er auch für sie ein Einfluss war? „Beuys hat mich im Studium tatsächlich viel beschäftigt“, sagt sie. „Wir hatten viele Videodokumente in der Bibliothek, die habe ich mir alle angesehen. Was mich bei Beuys begeistert hat und was in der Rezeption heute verloren geht, ist der Humor in seinem Werk.“ Wenn aber lebende oder tote Tiere in der Kunst zum Einsatz kämen, zum Beispiel auch in Beuys’ „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“, finde sie das schwierig. Eine Diskussion darüber stünde hier noch aus, in den USA werde sie schon geführt. Lin May Saeed ist eben nicht nur Künstlerin, sondern auch Aktivistin.
Was mich bei Beuys begeistert hat und was in der Rezeption heute verloren geht, ist der Humor in seinem Werk.