Urbanisierung, Straßenbau, Viehzucht – wo der Mensch sich ausbreitet, da ist höchstens noch Platz für den Großstadtdschungel. Umso größer die Faszination für unberührte Natur. Doch wo findet man die noch?
1. Die Danakil-Senke
Wenn „wild“ dort ist, wo kaum ein Mensch oder Tier Fuß fassen kann, dann zählt die Danakil-Senke zwischen Eritrea, Djibouti und Äthiopien zweifelsohne zu einem der wildesten Orte der Welt. Jährliche Durchschnittstemperaturen von 36 Grad Celsius und Spitzenwerte von 65 Grad machen das rund 10.000 Quadratmeter große Wüstengebiet für die meisten Lebewesen unbewohnbar. Dass die Region zudem noch vulkanisch aktiv ist, macht sie nicht gerade wirtlicher: Die Gase großer Schwefellöcher tauchen Teile der Danakil-Senke in grelle, außerirdisch anmutende Gelbtöne und aus tiefen Kratern steigen Lavadämpfe auf. Zu den wenigen Tieren, die sich unter diesen Umständen noch wohlfühlen, zählen Oryxantilopen und Dromedare. Die einzigen Menschen weit und breit sind derweil bewaffnete eritreische Separatisten, die das unzugängliche Territorium als Rückzugsgebiet nutzen, sowie die sogenannten Afar-Nomaden. Letztere bauen auf den Böden lang ausgetrockneter Seen Salz ab, das sie mittels großer Karawanen zum Verkauf ins äthiopische Hochland transportieren.
2. Neuhebridengraben
Eine der letzten wirklich unberührten Regionen der Erde ist die Tiefsee. Und einer der am wenigsten erkundeten Teile der Tiefsee ist der Neuhebridengraben, der sich 1.300 Kilometer nordwestlich von Neuseeland durch den Pazifikboden zieht. In einer Tiefe von mehr als 7.000 Metern tummeln sich dort womöglich die letzten noch völlig unbekannten Tierspezies der Welt. Bei der ersten und bislang einzigen Expedition in den Graben, die Ende 2013 mithilfe von Unterwasserrobotern durchgeführt wurde, fanden Wissenschaftler allerdings vor allem gähnende Leere. Bis auf sogenannte Bartmännchen, eine Unterart der Schlangenfische, und einige Grubenaale schwammen ihnen keine Lebewesen vor die Kameralinse – vielleicht der beste Beweis dafür, dass es an den wildesten Orten der Welt nicht zwangsläufig immer wild zugehen muss.
3. Gangkhar Puensum
Bis auf Schnee und Eis dürfte sich auf der Spitze des in Bhutan gelegenen Bergs Gangkhar Puensum wohl herzlich wenig finden, dafür aber zumindest himmlische Ruhe. Mit über 7.500 Höhenmetern gilt er nämlich als der höchste bislang unbestiegene Berg der Erde. Zwischen 1986 und 1994 scheiterten insgesamt vier Expeditionen bei dem Versuch, den Gipfel zu erklimmen. Danach verhängte der bhutanische Staat ein Verbot für jegliche Klettervorhaben jenseits der 6.000-Meter-Marke – und das nicht nur aus Sicherheitsbedenken. Dass die Bergwildnis des Gangkhar Puensum auch bis auf Weiteres unberührt bleiben wird, ist nämlich nicht zuletzt dem Glauben bhutanischer Siedler zu verdanken: Für sie, die am Fuße des Berges leben, gilt sein Gipfel seit Jahrhunderten als Sitz mächtiger Schutzgeister. Und diese dürfen unter keinen Umständen gestört werden.
4. Vale do Javari
Auf einem Gebiet, das größer als die komplette Staatsfläche Österreichs ist, erstreckt sich im Westen Brasiliens das Vale do Javari, das Javari-Tal. Hier leben bis heute nicht nur die letzten isolierten Völker des Landes –indigene Gruppen, die keinen Kontakt zur Außenwelt haben –, sondern womöglich auch eine Vielzahl seltener Tier- und Pflanzenarten. Genaueres weiß man allerdings nicht: Erkundungsflüge, Satellitenaufnahmen und vereinzelte staatliche Expeditionen in das Vale do Javari sind die einzigen Quellen für verlässliche Information. Offiziell darf das Tal nur von ausgewiesenen Wissenschaftlern oder, im äußersten Notfall, von Ärzten betreten werden. Trotzdem könnte es schon bald vorbei sein mit der unberührten Wildnis im äußersten Westen des Amazonas. Straßenbauunternehmen, Ölkonzerne und die Holzindustrie setzen die Politik seit Jahren unter Druck und wollen in das Javari-Tal vorstoßen. Illegale Abholzung und die Aktivitäten von Goldschürfern, die sich über die brasilianisch-peruanische Grenze Zugang verschaffen, sind schon heute ein Problem.
5. Sacha
Mit einer Bevölkerungsdichte von 0,3 Einwohnern pro Quadratkilometer zählt die russische Republik Sacha zu den am dünnsten besiedelten Gebieten der Erde. Auf einer Fläche, die beinahe so groß ist wie Kontinentaleuropa, leben hier gerade einmal 950.000 Menschen. Das dürfte auch daran liegen, dass in Sacha regelmäßig Temperaturen von unter minus 40 Grad Celsius herrschen. Der Permafrostboden reicht in manchen Teilen der Republik bis in 1.000 Meter Tiefe und würde bei langsam ansteigenden Temperaturen mehrere hundert Jahre brauchen, um wieder aufzutauen. Wo der Mensch sich nicht wohlfühlt, da profitiert in Sacha die Pflanzen- und Tierwelt: Verschiedenste Birken-, Kiefern-, Tannen- und Espenarten wuchern hier seit Jahrhunderten wild und seltene Tier wie der Zobel und der Vielfraß sowie große Wolfsrudel sind hier beheimatet. Im Norden der Republik, an der Küste des arktischen Meeres, nisten zudem bedrohte Vogelarten wie der Nonnenkranich und die Rosenmöwe.