Während der Weimarer Republik unterschied sich Berlin maßgeblich von anderen deutschen Großstädten. Das spiegelte sich auch in der Literatur wieder. Ein Überblick
Der Erste Weltkrieg hatte eine scharfe Zäsur in das kulturelle Leben Deutschlands und vor allem Berlins gesetzt: Viele Schriftsteller und Künstler kämpften an der Front um ihr Leben, ließen es dort oder kamen traumatisiert und seelisch überfordert zurück in die Großstadt. Die wiederum ließ ihnen ebenfalls keine Ruhe: Mit dem „Groß-Berlin-Gesetz“ wurden mehrere zuvor kreisfreie Städte, darunter Lichtenberg, Schöneberg, Charlottenburg und Neukölln, eingemeindet, die Einwohnerzahl verdoppelte sich von 1,9 auf 3,6 Millionen und Berlin wurde zur drittgrößten Stadt der Welt.
Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel konnten sich schämen.
Zugezogene aus aller Welt, Kriegskrüppel, Prostituierte, Industriearbeiter und das Großbürgertum bildeten einen Schmelztiegel mit ständig schwelendem Konfliktpotential. Der Ausbau des U-Bahn-Netzes und die Erweiterung der sonnenlichtlosen Mietskasernen in den ärmlicheren Vierteln, die Marktschreier und Trödler sorgten für einen beständigen Lärmpegel.
Voll mit Menschen
Kein Wunder, dass Franz Biberkopf – die Hauptfigur aus dem 1929 veröffentlichten Roman "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin – der Kopf brummt, als er nach Jahren der Haft aus dem Gefängnis in Tegel wieder in die Innenstadt Berlins fährt: „Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte“, können wir seinem expressiven Gedankenstrom folgen, „Am Alexanderplatz reißen sie den Damm auf für die Untergrundbahn. Man geht auf Brettern. Die Elektrischen fahren über den Platz die Alexanderstraße herauf durch die Münzstraße zum Rosenthaler Tor. Rechts und links sind Straßen. In den Straßen steht Haus bei Haus. Die sind vom Keller bis zum Boden mit Menschen voll. Unten sind die Läden. […] Über den Läden und hinter den Läden aber sind Wohnungen, hinten kommen noch Höfe, Seitengebäude, Quergebäude, Hinterhäuser, Gartenhäuser.“
Berlin in den 1920ern, das ist vor allem eine riesige Reizüberflutung: „[...]eßt Fisch, dann bleibt ihr schlank, gesund und frisch. Damenstrümpfe, echt Kunstseide, Sie haben hier einen Füllfederhalter mit prima Goldfeder“, die omnipräsenten Werbeanzeigen und Leuchtreklamen überfordern nicht nur Franz Biberkopf, sondern beeindrucken auch "Das kunstseidene Mädchen" (1932) von Irmgard Keun: „Berlin senkte sich auf mich wie eine Steppdecke mit feurigen Blumen. [...] Wir haben hier ganz übermäßige Lichtreklame. Um mich war ein Gefunkel.“ In seinem Roman "Gang vor die Hunde" (1929), der zunächst unter dem Titel "Fabian" in entschärfter Form erschienen war, reiht sich Erich Kästner in die Beschreibungen ein: „Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel konnten sich schämen.“
Die Orgie kann beginnen
Man wohnte „möbliert“ in den weiträumigen Wohnungen von Kriegswitwen und suchte sich den Ausgleich zu seinem langweiligen Arbeitsalltag im ausschweifenden Nachtleben. „Das von Musik begleitete Rundpanorama weiblicher Fülle erregte die an der Barriere drängenden Kommis, Buchhalter und Einzelhändler. Der Tanzmeister schrie, man möge sich auf die Damen stürzen, und das geschah. […] Die Orgie konnte beginnen“, beschreibt die Hauptfigur in Kästners "Gang vor die Hunde" eine nächtliche Vergnügung.
Setzte um ein Uhr morgens die Sperrstunde ein, zog man in illegale Nachtlokale in Privatwohnungen weiter, wo reichlich Alkohol und Drogen konsumiert und gleichgeschlechtliche Liebe praktiziert wurde. „Da gibt es Lokale, da sitzen so Weiber mit steifem Kragen und Schlips und sind furchtbar stolz, daß sie pervers sind, als wenn sowas nicht eine Gabe wäre, für die keiner was kann“, kommentiert das „kunstseidene Mädchen“ spöttisch.
Kohldunst und Schlafkammern
Doch nicht an allen Stellen der Stadt glitzert es. Während man im Westen mit Fuchsstola über den Kurfürstendamm flaniert, herrscht in den Mietskasernen im Osten der Stadt bittere Armut: „Um eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muß man in die Höfe vordringen, den traurigen ersten und den traurigeren zweiten, man muß die blassen Kinder beobachten, die da herumlungern und auf den Stufen zu den drei, vier und mehr Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet hat. […] Wer Gelegenheit hat, die dumpfen Stiegen hinaufzutasten bis zu den armseligen Wohnküchen mit ihrem Kohldunst und den Schlafkammern mit dem säuerlichen Säuglingsgeruch, kann 'lernen'“, weiß Franz Hessel, der ebenfalls 1929 seinen Band "Spazieren in Berlin" veröffentlichte.
Doch es geht immer noch schlimmer. Georg Fink, der eigentlich Kurt Münzer hieß, beschreibt in seinem Roman "Mich hungert" (1929) das Elend eines kleinen Jungen, der von seinem Vater zum Betteln gezwungen wird – und doch weiß, dass man durchaus noch weniger haben kann: "Der Hof war eng, hoch umbaut, der Abort stieß an unsere Wand. Es wohnten einunddreißig Parteien im Vorderhaus und den Seitenflügeln, hundertdreiundsechzig Menschen mit Schlafburschen und Bettmädchen. […] In den hundert Stuben und Küchen des Hauses war die Armut der Welt zu sehen, und doch war es nicht die bitterste. Denn es waren noch Stuben, es gab ein Dach, einen Ofen. Andere hatten nur die Bänke in den Hainen, die Brückenbögen, die erbrochenen Lauben."
Ordnung im Paradies
Wie im echten Leben legt sich auch über die Literatur der Weimarer Republik ein immer dunkler werdender Schatten – der Antisemitismus gewinnt an Kraft. Manch einer lässt sich von den protzigen Gesten der Nationalsozialisten einwickeln, so auch Franz Biberkopf: „Franz handelt nun völkische Zeitungen. Er hat nichts gegen die Juden, aber er ist für Ordnung, denn Ordnung muß im Paradies sein, das sieht ja wohl ein jeder ein. Und der Stahlhelm, die Jungens hat er gesehen, und ihre Führer auch, das ist was.“
Es ist eine leise Kritik des Autors an den Menschen, die sich ohne Hinterfragen dem Populismus Hitlers ergeben – und die wenige Jahre später dazu führte, dass die Bücher der in der Weimarer Republik populären Autoren wie Alfred Döblin, Erich Kästner, Egon Erwin Kisch und Kurt Tucholsky auf dem Scheiterhaufen der Bücherverbrennung landeten. Die Anziehungskraft Berlins hallte jedoch auch weiterhin in der Literatur nach – und tut dies bis heute.