Die Poesie der Hörigkeit - ein Roman über Mopsa Sternheims unerwiderte Liebe zu Gottfried Benn in den 1920er und -30er Jahren. Lea Singer erweckt diese einseitige Amour fou wieder zum Leben.
1954, kurz vor ihrem Tod durch Unterleibskrebs, schrieb Elisabeth Dorothea Sternheim, genannt Mopsa, diesen Satz in ihren Abschiedsbrief. Zu dem Zeitpunkt lagen Jahrzehnte der unerfüllten Liebe hinter der Tochter des jüdischen Schriftstellers und Dramaturgen Carl Sternheim. Jahre einer emotionalen Abhängigkeit von Gottfried Benn, dem dichtenden Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, der Frauen nur als „eine Art Mensch“ betrachtete - und dementsprechend auch behandelte.
Eigentlich war Benn, der im ersten Weltkrieg als Lazarettarzt gearbeitet und dort Mopsas Vater, Carl Sternheim, kennengelernt hatte, ein Freund ihrer Eltern. Doch schon als kleines Kind, wenn der „Arzt, der Gedichte schreibt“, zu Besuch kam, war die kleine Dorothea, geboren 1905 und von allen nur Mopsa genannt, gleichsam erschrocken und fasziniert: „Dieser Mann mit Namen Benn in seinem harten dicken Militärmantel war eine Festung, stark und stur und uneinnehmbar.“
Sage Gottfried, dem Großen einmal, wie sehr ich dreißig Jahre lang --- ja sag es ihm doch einmal. Immerhin hat er EINE große, von allen äußeren Belangen unabhängige Passion hervorgerufen – Weiß er das wohl – vielleicht ist's im selbst egal?
Kühl und abweisend war dieser Arzt, der in Berlin-Kreuzberg Straßenmädchen auf Haut- und Geschlechtskrankheiten untersuchte und dabei das ganze Elend mit einer kaltblütigen Gleichgültigkeit taxierte. „Frauen müssten Kaninchen sein,“ ist er überzeugt, „dann wären sie anders organisiert als wir. Wüssten nicht, was wir denken und tun. Sie könnten in der Bettstelle schlafen, unten an den Füßen, und alles wäre in Ordnung. Leider aber sind sie keine Kaninchen, sondern eine Art Mensch.“ Zur emotionalen Aufrechterhaltung schrieb Benn Gedichte, aus deren Zeilen der Ekel an der Welt und der Weimarer Gesellschaft herausquillt.
Im Rausch der Gefühle
Ausgerechnet an ihn verlor Mopsa ihr Herz und ihren Verstand – doch Benn blieb eiskalt. Eine kurze Affäre mit Mopsa reduzierte er mit harschen Worten auf ihren alleinigen sexuellen Charakter. Mit dem Gefühl der unerwiderten Liebe und in Begleitung von Erika und Klaus Mann taumelte Mopsa im Kokain- und Morphinrausch durch Berlin und den eigenen Schmerz, den man in dieser Großstadt an der Spree zwar mit unzähligen Mitteln überdecken und betäuben konnte, doch früher oder später kam das nüchterne Erwachen und alles wurde noch schlimmer.
Dann erinnerte sie sich daran, wie sie als Kind zwischen dem vermeintlichen Vater Arthur Löwenstein und dem eigentlichen Vater Carl Sternheim hin- und hergeschoben wurde, wie letzterer sie bei allen Gelegenheiten anfasste, wie er die Grenze zwischen Vater und Kind auflöste und die Mutter dabei nur zuschaute. Der Seelenschmerz über die beständige Ablehnung Benns wurde gewaltig. Mopsa lag ihm, körperlich und geistig ergeben, zu Füßen - und nannte dieses erbärmliche Gefühl Liebe. Nur Drogen und die Ausschweifungen des Berliner Nachtlebens, so scheint es, brachten ihr Ruhe. Das Berlin der Weimarer Republik kannte keine Grenzen – wie könnte man sie übertreten oder sich auch nur an ihnen reiben?
Wochenlang war sie seit Jahresbeginn als Treibholz durch die Berliner Grenzenlosigkeit gedümpelt. […] Auf dem Kudamm Männer mit hervorblitzenden Strapsen auf High Heels, Frauen mit dramatisch bemalten Verzweiflungsgesichtern, mit räudigen Pelzen und schrillem Fummel zu Diven der Apokalypse aufgetakelt.
In „Die Poesie der Hörigkeit“ beschreibt Lea Singer den Weg einer jungen Frau, die im Strudel der Berliner Grenzenlosigkeit verzweifelt nach einem Strohhalm zum Festhalten sucht, dabei in leidenschaftslose Liebschaften und Drogenmissbrauch rutscht, sich selbst verneint und zugrunde richtet, während ihr Angebeteter Gottfried Benn sich frohen Mutes dem Nationalsozialismus und der von ihm propagierten „Herrenrasse“ zuwendet.
Im Sog der Gefühle
Die Tragödie des Lebens der Mopsa Sternheim entfaltet sich in fast lyrischer Sprache, die zwischendurch wie die Vertonung eines abstrakten Gemäldes klingt: Oft fragt man sich, wie die Gedankenfetzen, Erinnerungen und Worte zusammenhängen und was sie bedeuten – man fühlt diese Geschichte eher, als dass man sie dechiffriert. Dieser Roman ist wie ein Sog, der den Leser in die Tiefen einer unerfüllten Liebe zu Zeiten der Exzesse und Zügellosigkeiten, politischen Instabilität und himmelschreienden Doppelmoral in der Weimarer Republik zieht und am Ende erschöpft zurücklässt.
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