Über das weibliche Selbstporträt in der Fotografie.
„It's a matter of convenience, I'm always available”, schreibt die junge Fotografin Francesca Woodman in ihr Notizbuch und formuliert in der Leichtigkeit ihrer Worte das Credo von mehr als 150 Jahren weiblicher Fotografie. Vor und hinter der Kamera, Modell und Schöpferin – diese Doppelrolle haben bereits Jahrzehnte vor Woodman Fotografinnen angenommen, deren Selbstverständnis Frauen über das Medium hinaus beeinflusst haben. Mit der Kamera erkunden diese Künstlerinnen wie Claude Cahun und Germaine Krull, wie später Woodman, Birgit Jürgenssen, Hannah Wilke und Cindy Sherman, wie heute Petra Collins im digitalen Selfie ihre eigene Identität und halten sich selbst dabei im Spiegel oder mittels des Selbstauslösers fest.
Scheinbar unverhohlen stellen sie sich und ihre Körper dabei dem Betrachter-Auge zur Schau, doch sind ihre Bilder mehr als nur die Dokumente narzisstischer Menschen. Wie auch in anderen Beispielen der Ausstellung ICH in der SCHIRN führen diese Künstlerinnen vielmehr das Selbstbildnis über dessen klassische Definition hinaus. Sie eröffnen dabei eine weitere Ebene der Dualität: des Subjekts versus Objekt, verkörpert in nur einer Person, genauer gesagt: einer Frau. Mit der Fotografie sollen sie dafür das ideale Medium gefunden haben, mit ihrem Körper ihr wichtigstes Werkzeug.
Die Neuen Frauen
Seinen Ausgang findet dieses (Selbst-)Verständnis am Anfang der Fotografie, die Frauen plötzlich eine willkommene, experimentierfreudige Freiheit offenbarte. Ihm voraus waren Jahrhunderte der Malerei und der Bildhauerei gegangen – und damit Jahrhunderte der klaren Rollen: der Mann als Schöpfer, als malendes und formendes Genie, die Frau als eines seiner beliebtesten Motive. Malerinnen und Bildhauerinnen hingegen sollten stets in der Minderheit bleiben.
Mit dem Aufkommen der Fotografie ändert sich dies. Gerade weil die Fotografie über Jahrzehnte hinweg nicht als Kunstform galt, konnten Frauen hier unbefangen ihre Welt, andere Menschen und eben sich selbst einfangen. Hier wurde das Medium an sich immer wieder thematisiert, wie etwa bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert von der Comtesse de Castiglione, die sich mit vorgehaltenem Bilderrahmen porträtieren ließ und damit auf die Inszenierung ihrer weiblichen Schönheit durch die Fotografie verwies.
Reflexion über das Medium
Die Tradition solcher Fotografien greifen in Deutschland insbesondere in den 20er- und 30er-Jahren Fotografinnen einer neuen Generation, der „Neuen Frauen“, auf. Sie inszenieren weibliche Selbstporträts, die mit Spiegeln, Masken und unterschiedlichen Raumkonzepten arbeiten, die als Moment der Selbstbefragung und Reflexion über einen Beruf sowie das Medium fungieren. Zu ihren bekanntesten Vertreterinnen gehört die Berliner Fotografin Germaine Krull – gewissermaßen der Prototyp der selbstbewussten „Neuen Frau“, die mit der professionellen Kriegsreportage eine der männlichen Fotografie-Domänen für sich eroberte.
Für ihr monochromes „Selbstporträt mit Ikarette“ fotografiert sie sich 1925 in einem Spiegel: Eine Handkamera verdeckt ihr Gesicht fast gänzlich; in der Unschärfe ist es ohnehin kaum zu erkennen. Einerseits ein Berufsporträt, dokumentiert sich Krull hier mit ihrem essentiellen Werkzeug und macht erneut den inszenierten Rahmen des Mediums explizit. Andererseits geht es der Wirklichkeit zugleich von anderer Seite auf die Spur, wenn Krull anhand ihres Selbstporträts das neue Bild der Frau manifestiert. Der Spiegel, der hier impliziert wird, bleibt ein beliebtes Hilfsmittel bei Zeitgenossinnen wie Ilse Bing, Florence Henri und Lotte Jacobi.
Eine eigene Bildsprache
Nicht nur den Spiegel werden auch die Künstlerinnen der späten 60er- und 70er-Jahre wieder aufgreifen und dessen Effekt mittels einer Rolle oder Maskierung noch weiterdenken, sondern ebenfalls die Tradition der Selbstbefragung in Form des Selbstporträts fortführen. Unter Einfluss der Bürgerrechts-, Antikriegs-, 68er-Bewegung sowie der Frauenbewegung entsteht eine „Feministische Avantgarde“ (den Namen prägte die Kunstkritikerin, Publizistin und Direktorin der Sammlung VERBUND, Gabriele Schor im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung 2015) – eine geistige Gemeinschaft, deren Pionierinnen zumeist unabhängig voneinander das gesellschaftliche Bild der Frau dekonstruieren und eine neue Repräsentation für sie suchen, unter ihnen Künstlerinnen wie Lynda Benglis, Suzy Lake, Eleanor Antin, Hannah Wilke, Martha Rosler, Cindy Sherman, Birgit Jürgenssen oder auch VALIE EXPORT. Daraus entwickeln sie ihre eigene Bildsprache, die auch Francesca Woodman wenige Jahre später aufgreifen wird.
Der weibliche Körper wird hier zunehmend instrumentalisiert: seine Grenzen gesucht, seine Oberfläche als Leinwand genutzt oder verkleidet, seine traditionelle Rolle als (Anschauungs-)Objekt verhandelt. Die Frau als Mutter, als Haus- und Ehefrau und/oder als sexuelles, „schönes“ Objekt – um diese Stereotypen zu entlarven, wählen die Künstlerinnen die Performance, die Videokunst und weiterhin das Selbstporträt in der Fotografie. So zum Beispiel in der frühen „Bus Riders“-Serie oder den berühmt gewordenen „Untitled Film Stills“ der „Verkleidungskünstlerin“ Cindy Sherman, in den Inszenierungen von Hannah Wilke, den oftmals ironischen, mehrschichtigen Selbstporträts der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen (etwa mit „Jeder hat seine eigene Ansicht“) oder eben auch bei Francesca Woodman. Bis auf wenige Ausnahmen hat Woodman stets sich selbst vor der Kamera inszeniert und in eindringlicher Bildsprache kulturgeschichtliche Bezugspunkte sowie Fragen nach dem Ich eröffnet, das Verhältnis des Körpers zum Raum sowie dessen Auflösung in ihren Selbstbildnissen verhandelt – und dabei die klassische Definition des Selbstporträts infrage gestellt.
Das Verständnis von Fotografie
Die Fotografie ermöglicht es dabei all den Künstlerinnen, ihren performatorischen Akt von dem öffentlichen in den privaten Raum, in ihre Ateliers und Wohnung zu verlegen, und dennoch ein Publikum daran teilhaben zu lassen. Die zentrale Losung der Frauenbewegung, das Private sei politisch, wird damit in der Kunst der „Feministischen Avantgarde“ der siebziger und nachfolgenden Jahre ein Faktum.
Nicht seit jeher gegeben, sondern die Vorarbeit jener Pionierinnen hat das Verständnis von Fotografie in den darauffolgenden Jahrzehnten so sehr verändert, dass die nachfolgenden Generationen zuweilen unbewusst noch heute in ihrer Tradition stehen: Weniger politisch, jedoch weiterhin mit der Öffnung des (scheinbar) intimen privaten Raumes arbeitet heute eine neue Generation von Fotografinnen – eine Generation junger Frauen, die sich und ihre weibliche Umwelt mit den Handykameras festhält, die über Instagram und andere soziale Medien bekannt werden, die weniger ihre politisch-gesellschaftliche Rolle neu definieren wollen. Stattdessen lehnen sie sich – allen voran die Fotografin Petra Collins – gegen photoshopbasierte, spindeldürre, von Werbung und Konsumgesellschaft propagierte Schönheitsideale auf. Ihre Hilfsmittel bleiben dabei jedoch die gleichen nahe liegenden wie bereits 10We0 Jahre zuvor: die Fotografie und ihre eigenen Körper – in all ihrer ungeschminkten, Zahnspangen tragenden, spätpubertierenden, scheinbar imperfekten Natürlichkeit.