Warum ist das neoliberale Herrschaftssystem so stabil? Warum gibt es kaum Widerstand dagegen? Trotz einer immer größer werdender Schere zwischen Reich und Arm?
Als es im Oktober 2013 in der Berliner Schaubühne zu einer Debatte zwischen Antonio Negri und mir kam, stießen zwei Kapitalismuskritiken frontal aufeinander. Negri schwärmte für Möglichkeiten des globalen Widerstandes gegen das "Empire", das neoliberale Herrschaftssystem. Er präsentierte sich als kommunistischer Revolutionär und bezeichnete mich als skeptischen Professor. Emphatisch beschwor er die "Multitude", die vernetzte Protest- und Revolutionsmasse, der er es offenbar zutraute, das Empire zu Fall zu bringen. Mir erschien die Position des kommunistischen Revolutionärs zu naiv und realitätsfern. So versuchte ich, Negri zu erklären, warum heute keine Revolution mehr möglich ist.
Warum ist das neoliberale Herrschaftssystem so stabil? Warum gibt es so wenig Widerstände dagegen? Warum werden sie alle so schnell ins Leere geführt? Warum ist heute keine Revolution mehr möglich trotz immer größer werdender Schere zwischen Reichen und Armen? Für eine Erklärung ist ein genaues Verständnis notwendig, wie die Macht und Herrschaft heute funktioniert.
Wer ein neues Herrschaftssystem installieren will, muss Widerstand beseitigen. Das gilt auch für das neoliberale Herrschaftssystem. Zur Einsetzung eines neuen Herrschaftssystems ist eine setzende Macht notwendig, die oft mit Gewalt einhergeht. Aber diese setzende Macht ist nicht identisch mit der das System nach innen hin stabilisierenden Macht. Es ist bekannt, dass Margaret Thatcher als Vorkämpferin des Neoliberalismus die Gewerkschaften als "Feind im Inneren" behandelte und sie gewaltsam bekämpfte. Gewaltsamer Eingriff zur Durchsetzung der neoliberalen Agenda ist jedoch nicht jene systemerhaltende Macht.
Die systemerhaltende Macht der Disziplinar- und Industriegesellschaft war repressiv. Fabrikarbeiter wurden durch Fabrikeigentümer brutal ausgebeutet. So führte die gewaltsame Fremd-Ausbeutung der Fabrikarbeiter zu Protesten und Widerständen. Möglich war hier eine Revolution, die das herrschende Produktionsverhältnis umstürzen würde. In diesem repressiven System sind sowohl die Unterdrückung als auch die Unterdrücker sichtbar. Es gibt ein konkretes Gegenüber, einen sichtbaren Feind, dem der Widerstand gilt.
Das neoliberale Herrschaftssystem ist ganz anders strukturiert. Hier ist die systemerhaltende Macht nicht mehr repressiv, sondern seduktiv, das heißt, verführend. Sie ist nicht mehr so sichtbar wie in dem disziplinarischen Regime. Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre.
Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich selbst statt der Gesellschaft.
Ineffizient ist jene disziplinarische Macht, die mit einem großen Kraftaufwand Menschen gewaltsam in ein Korsett von Geboten und Verboten einzwängt. Wesentlich effizienter ist die Machttechnik, die dafür sorgt, dass sich Menschen von sich aus dem Herrschaftszusammenhang unterordnen. Ihre besondere Effizienz rührt daher, dass sie nicht durch Verbot und Entzug, sondern durch Gefallen und Erfüllen wirkt. Statt Menschen gefügig zu machen, versucht sie, sie abhängig zu machen. Diese Effizienzlogik des Neoliberalismus gilt auch der Überwachung. In den 1980er-Jahren hat man heftigst gegen die Volkszählung protestiert. Sogar die Schüler gingen auf die Straße.
Aus heutiger Sicht wirken die notwendigen Angaben wie Beruf, Schulabschluss oder Entfernung zum Arbeitsplatz fast lächerlich. Es war eine Zeit, in der man glaubte, dem Staat als Herrschaftsinstanz gegenüberzustehen, der den Bürgern gegen deren Willen Informationen entreißt. Diese Zeit ist längst vorbei. Heute entblößen wir uns aus freien Stücken. Es ist gerade diese gefühlte Freiheit, die Proteste unmöglich macht. Im Gegensatz zur Zeit der Volkszählung protestieren wir kaum gegen die Überwachung. Freie Selbstausleuchtung und -entblößung folgt derselben Effizienzlogik wie die freie Selbstausbeutung. Wogegen protestieren? Gegen sich selbst? Diese paradoxe Situation bringt die amerikanische Konzeptkünstlerin Jenny Holzer mit ihrem "truism" zum Ausdruck: "Protect me from what I want."
Es ist wichtig, zwischen setzender und erhaltender Macht zu unterscheiden. Die systemerhaltende Macht nimmt heute eine smarte, freundliche Form an und macht sich dadurch unsichtbar und unangreifbar. Das unterworfene Subjekt ist sich hier nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Es wähnt sich in Freiheit. Diese Herrschaftstechnik neutralisiert den Widerstand auf eine sehr effektive Art und Weise. Die Herrschaft, die Freiheit unterdrückt und angreift, ist nicht stabil. Das neoliberale Regime ist deshalb so stabil, immunisiert sich gegen jeden Widerstand, weil es von der Freiheit Gebrauch macht, statt sie zu unterdrücken. Die Unterdrückung der Freiheit provoziert schnell Widerstand. Die Ausbeutung der Freiheit dagegen nicht.
Nach der Asienkrise war Südkorea gelähmt und geschockt. Da kam der IWF und gab den Koreanern Kredite. Dafür musste die Regierung die neoliberale Agenda gewaltsam gegen Proteste durchsetzen. Diese repressive Macht ist die setzende Macht, die häufig auf Gewalt zurückgreift. Aber diese setzende Macht unterscheidet sich von der systemerhaltenden Macht, die im neoliberalen Regime sich sogar als Freiheit gibt. Für Naomi Klein ist der gesellschaftliche Schockzustand nach Katastrophen wie der Finanzkrise in Südkorea oder Griechenland die Gelegenheit, die Gesellschaft gewaltsam einer radikalen Neuprogrammierung zu unterwerfen. Heute gibt es in Südkorea kaum Widerstände. Es herrscht dagegen ein großer Konformismus und Konsens mit Depression und Burn-out. Südkorea hat heute weltweit die höchste Suizidrate. Man wendet Gewalt gegen sich selbst an, statt die Gesellschaft verändern zu wollen. Die Aggression nach außen, die eine Revolution zur Folge hätte, weicht einer Selbstaggression.
Heute gibt es keine kooperierende, vernetzte Multitude, die sich zu einer globalen Protest- und Revolutionsmasse erheben würde. Vielmehr macht die Solitude des für sich isolierten, vereinzelten Selbst-Unternehmers die gegenwärtige Produktionsweise aus. Früher standen Unternehmen miteinander in Konkurrenz. Innerhalb des Unternehmens war dagegen eine Solidarität möglich. Heute konkurriert jeder mit jedem, auch innerhalb eines Unternehmens. Diese absolute Konkurrenz erhöht zwar die Produktivität enorm, aber sie zerstört Solidarität und Gemeinsinn. Aus erschöpften, depressiven, vereinzelten Individuen lässt sich keine Revolutionsmasse formen.
Man kann den Neoliberalismus nicht marxistisch erklären. In ihm findet nicht einmal die berühmte "Entfremdung" von der Arbeit statt. Heute stürzen wir uns mit Euphorie in die Arbeit bis zum Burn-out. Die erste Stufe des Burn-out-Syndroms ist eben die Euphorie. Burn-out und Revolution schließen sich aus. So ist es ein Irrtum zu glauben, dass die Multitude das parasitäre Empire abwirft und eine kommunistische Gesellschaft installiert.
Wie steht es heute mit dem Kommunismus? Überall wird Sharing und Community beschworen. Die Sharing-Ökonomie soll die Ökonomie des Eigentums und des Besitzes ablösen. "Sharing is Caring", "Teilen ist Heilen", so heißt eine Maxime der "Circler" im neuen Roman von Dave Eggers, "The Circle". Die Pflastersteine, die den Fußweg zur Firmenzentrale von Circle bilden, sind durchsetzt mit Sprüchen wie "Sucht Gemeinschaft" oder "Bringt euch ein". Caring is Killing, sollte es aber eigentlich heißen. Auch die digitale Mitfahrzentrale "Wunder Car", die jeden von uns zum Taxi-Fahrer macht, wirbt mit der Idee der Community. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, dass die Sharing-Ökonomie, wie Jeremy Rifkin in seinem jüngsten Buch "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft" behauptet, ein Ende des Kapitalismus, eine globale, gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft einläutet, in der Teilen mehr Wert hätte als Besitzen. Im Gegenteil: Die Sharing-Ökonomie führt letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens.
Der von Jeremy Rifkin gefeierte Wechsel vom Besitz zum "Zugang" befreit uns nicht vom Kapitalismus. Wer kein Geld besitzt, hat eben auch keinen Zugang zum Sharing. Auch im Zeitalter des Zugangs leben wir weiterhin im "Bannoptikum", in dem diejenigen, die kein Geld haben, ausgeschlossen bleiben. "Airbnb", der Community Marktplatz, der jedes Zuhause in ein Hotel verwandelt, ökonomisiert sogar die Gastfreundschaft. Die Ideologie der Community oder der kollaborativen Commons führt zur Totalkapitalisierung der Gemeinschaft. Es ist keine zweckfreie Freundlichkeit mehr möglich. In einer Gesellschaft wechselseitiger Bewertung wird auch die Freundlichkeit kommerzialisiert. Man wird freundlich, um bessere Bewertungen zu erhalten. Auch mitten in der kollaborativen Ökonomie herrscht die harte Logik des Kapitalismus. Bei diesem schönen "Teilen" gibt paradoxerweise niemand etwas freiwillig ab. Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware, das ist das Ende der Revolution.
Titelbild: Jenny Holzer, Protect Me From What I Want, Copyright the artist
Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung. Die Erstveröffentlichung vom 3. September 2014 finden Sie hier.
Byung-Chul Han, geboren 1959 in Seoul, lehrt Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin.