Die SCHIRN zeigt die erste große Überblicksausstellung zum Werk des Foto- und Performancekünstlers Ulay.
Die SCHIRN widmet dem Ausnahmekünstler Ulay vom 13. Oktober 2016 bis zum 8. Januar 2017 die erste große Überblicksausstellung überhaupt. Ulay bezeichnet sich selbstironisch als bekanntesten unbekannten Künstler.
Seit fast einem halben Jahrhundert führt er das eigene Leben und die Kunst radikal zusammen. Mit seinem Konzept der Transformation schafft Ulay ständig neue Identitäten. Sein bevorzugtes Medium ist die analoge Fotografie und ganz besonders die Polaroid-Fotografie, die zu einem wesentlichen Bestandteil seiner künstlerischen Praxis geworden ist. Sein Körper dient ihm dabei bis heute als Forschungsgegenstand, auf dem sich wie auf einer Leinwand verschiedene Einflüsse abzeichnen und ablesen lassen. Wie drückt sich Identität im Körper aus, und welche Strategien verändern Identität? Auf diese Fragen sucht Ulay in seinem Schaffen nach Antworten. Die Haut ist dabei besonders bedeutend. Der Künstler versteht sie gleichermaßen als Oberfläche des Körpers wie auch der Fotografie. Indem er die Haut gestaltet, sie entwirft, durchstößt oder mit Zeichen versieht, erzählt er konfrontative Geschichten über Identität und die ihr zugemuteten Brüche.
Neben zahlreichen Einzelaktionen der performativen Fotografie und Body-Art hat Ulay viele Performances und Projekte auch mit anderen Personen und Künstlern realisiert: Mit seiner früheren Muse Paula Françoise-Piso entstanden fotografische Serien, in denen er die Befragung des Selbst bis zu dessen Auflösung steigerte; mit der Künstlerin Marina Abramović gelang ihm eine Erweiterung der Performance-Kunst, die bis heute Maßstäbe setzt. Darüber hinaus entwickelte er zahlreiche partizipative Arbeiten mit sozialen Randgruppen. Ulay definiert Fotografie und Performance für sich auf eine charakteristische und sehr persönliche Weise. „Identität durch Wandel“ ist das Prinzip, das seine Kunst wie ein roter Faden durchzieht und es ihm ermöglicht, sich einer starren Identitätszuschreibung zu entziehen.
Die retrospektiv angelegte Ausstellung in der SCHIRN führt sein umfassendes Werk aus den Jahren 1970 bis 2016 zusammen. Es werden rund 150 Arbeiten gezeigt, darunter Fotografien, Filme und Projektdokumentationen, Objekte und Skulpturen sowie Arbeiten auf Papier. Zum ersten Mal werden auch zahlreiche Arbeiten öffentlich zu sehen sein, die der Künstler aufgrund seines uneingeschränkten Bedürfnisses nach Gegenwart und seiner Skepsis gegenüber dem Kunstbetrieb bislang zurückgehalten hat.
Ulay gilt als Begründer der performativen Fotografie. Es ist bis heute einzigartig, wie der 1943 im deutschen Solingen geborene Künstler die Fotografie und die Performancekunst konzeptuell zusammengebracht hat. Zum Ende der 1960er-Jahre verlässt er Deutschland, verkürzt seinen bürgerlichen Namen Frank Uwe Laysiepen auf Ulay, geht nach Amsterdam und schließt sich der niederländischen anarchistischen Bewegung der Provos an. Als Consultant für Polaroid International Amsterdam hat er unbegrenzten Zugang zu Filmen und Kameras, reist nach London, Paris, Rom und New York und beginnt autodidaktisch mit der Kunstfotografie zu experimentieren.
So entsteht in den frühen 1970er-Jahren eine Vielzahl an Fotografien, in denen Ulay die Rolle des gesellschaftlichen Geschlechts subjektiv und erzählerisch ergründet – in Selbstbildnissen ebenso wie in Porträts von Transsexuellen, Transvestiten oder Obdachlosen. Mit dem Medium der Fotografie dokumentiert und verarbeitet Ulay den Prozess seiner mal stärker weiblich, mal mehr männlich orientierten Erscheinung und Identität. Das Prinzip der Serialität, mit dem er bestimmte Prozesse von Anfang bis Ende abbildet und festhält, unterstreicht dabei den performativen Aspekt. Mitte der 1970er-Jahre läutet Ulay eine neue Schaffensphase ein: er wendet sich von den fotografischen Selbsterkundungen ab und widmet sich gänzlich der Performance vor Publikum.
Gleichzeitig beginnt er, mit anderen Künstlern, etwa mit Jürgen Klauke kollaborativ zu arbeiten. Mit seiner damaligen Partnerin Marina Abramović konzipiert Ulay Performances, die zwischenmenschliche Beziehungen repräsentieren, sie kommentieren und die Möglichkeit einer von zwei Menschen geschaffenen, neuen Identität untersuchen. Während ihrer zwölfjährigen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft tritt die Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel Ulays in den Hintergrund und er nimmt sie erst nach dem Ende ihrer symbiotischen Beziehung 1988 wieder auf. In den darauffolgenden Jahrzehnten setzt er außerhalb seines alltäglichen Umfeldes oder auf Reisen in die USA, nach Australien, Indien, Myanmar oder Syrien zahlreiche partizipative Kunstprojekte mit sozial marginalisierten Gruppen um. Bis heute lebt Ulay seine Idee des nomadischen Künstlers, der überall auf der Welt arbeitet und nur sich selbst verpflichtet ist, seinem eigenen Anspruch gerecht werden muss.
Die Ausstellung in der SCHIRN stellt Ulays großformatige Fotoarbeiten der 1990er-Jahre an den Anfang. Mit dem Ziel, die analoge Fotografie neu zu erfinden, entstanden damals in einem speziellen Polaroid-Studio in Boston die „Polagrams“ (1990/1993) und die vielteilige Arbeit „Can't Beat the Feeling – Long Playing Record“ (1992). In dem 2,75 x 1,12 m großen Polagram „Self-Portrait“ (1990) präsentiert sich den Besuchern ein Künstler, der nicht in Gestalt des eigenen Körpers in Erscheinung tritt, sondern nur noch als eine Spur seiner selbst: Er verschwindet im Sinne des Wortes in der Kamera. Das Verschwinden spielt auch in den „Anagrammatic Bodies“ aus dem Jahr 2015 eine Rolle. Ulay knüpft mit dieser Arbeit an seine ikonischen Fotocollagen der Jahre ab 1972 an, in denen er seinen eigenen Körper baukastenförmig dekonstruierte, ihn in Fragmente auflöste, um ihn durch die Verbindung mit fotografischen Teilen anderer Personen zu einer hybriden Identität zusammenzusetzen. In der aktuellen Arbeit vermischt er Bildfragmente seines eigenen Körpers mit denen von weiblichen Models und Schauspielerinnen und produziert so Gender-Mischwesen.
Die von Ulay 1974 selbstgestaltete Todesanzeige „Mein Abschied als einzige Person“ markiert den Anfang der Zusammenarbeit mit Marina Abramović. Die SCHIRN präsentiert zwei Videos von gemeinsamen Performances: „Relation in movement“ (1977) und „Imponderabilia“ (1977). In dieser letztgenannten Performance in Bologna bezogen sie das Publikum erstmals mit ein: In einem Durchgang, der gleichzeitig als Eingang zur Galleria Comunale d’Arte Moderna diente, stehen sich die beiden nackt gegenüber. Die Besucher können nicht ins Museum gelangen, ohne die Künstler zu berühren, und müssen entscheiden, ob sie Abramović oder Ulay mit der Vorder- oder Rückseite des eigenen Körpers streifen.
Grenzüberschreitung und die Verletzung der Intimsphäre sind zentrale Themen, mit denen sich Ulay bereits in den „Intimate Actions“ auseinandergesetzt hatte. Für den Künstler bildet die Haut die natürliche Grenze, die es auf der Suche nach der Identität zu durchbrechen gilt. Die elfteilige Auto-Polaroid-Serie etwa dokumentiert die Performance „GEN.E.T.RATION ULTIMA RATIO“ (1972): diesen Titel ließ sich Ulay auf den linken Unterarm tätowieren und diese Hautpartie anschließend von einem Arzt entfernen. In „White Mask“ (1973/74) balsamiert der Künstler seinen Kopf mit weißer Farbe ein, um sich so selbst auszulöschen. Eine Fortführung dieses Ansatzes lässt sich auch in der fast dreißig Jahre später entstandenen, siebenteiligen Selbstportrait-Reihe „Sweet Water – Salt Water“ (2002) ausmachen. Der Körper wird mehr und mehr zurückgenommen und aus dem Bild entfernt bzw. ersetzt: Das eigentliche Porträt ist nur ein Brustbild des Künstlers, als Stellvertreter der Körperteile fungieren mit Wasser gefüllte Gläser.
Ulays jüngste Performances, wie etwa „Invisible Opponent“ (2016), haben gegenüber denjenigen aus den 1970er-Jahren nicht an Intensität und Kompromisslosigkeit verloren. Ulay versteht den Körper in aktuellen Arbeiten auch als Gegenentwurf zum Optimierungszwang und der Tabuisierung von Alter in unserer Gesellschaft. Gleichzeitig transformiert der Künstler noch einmal die Gender-Themen, die er bereits in den Auto-Polaroids „S’he“ (1973/74) und den Fotocollagen „Renais sence Aphorism“ (1972–1975) und „Pa’Ulay“ (1973/1974) ergründete. Damit knüpft er an die aktuellen Queer-, Feminismus- und Posthuman-Diskurse an, verweist aber unverkennbar auch auf seine früheren Arbeiten. Zudem erinnert er daran, dass Text einen Großteil seiner künstlerischen Tätigkeit durchzieht.
In seinen Performances aus dem Jahr 2016 bezieht Ulay die Literatur mit ein: Zum Beispiel wurde das von der US-amerikanischen Dichterin Anne Sexton verfasste und über ein Tonband eingespielte, von ihr vorgetragene Gedicht „Her Kind“ (1959) zu einem wesentlichen Bestandteil von Ulays Performance Pink Pain (2016). Die Ausstellung in der SCHIRN schließt mit den „Aphorisms“ (1970/71), die Ulay in seinen ersten Jahren in Amsterdam geschaffen hat, und in denen alle zentralen Aspekte seines Werkes bereits angelegt sind. In diesen auf einer Schreibmaschine verfassten Typoskripten, Fotocollagen oder Zeichnungen hatte Ulay das Programm seiner performativen fotografischen Arbeit schon früh angelegt.
Ulay, geboren 1943 als Frank Uwe Laysiepen in Solingen, lebt und arbeitet in Amsterdam und Ljubljana.