Merklich rückt in Yalda Afsahs Videoarbeit „SSRC“ die Mensch-Tier-Beziehung in den Fokus. Denn im titelgebenden Secret Society Roller Club erfüllen die Tauben neben einer sportlich-hedonistischen Freude am Züchten noch eine ganz andere Rolle: sie verschaffen den Männern feste Alltagsstrukturen.
Geduldig und aufmerksam schaut eine Gruppe von Männern an einem warmen Sommertag gen strahlend blauen Himmel. Einige der Beobachter nutzen Hände oder Baseball-Caps, um sich ein wenig vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Die Kamera nimmt sich Zeit, die Gesichter der Männer langsam abzufahren, ohne zunächst zu offenbaren, was genau ihre Blicke vereinnahmt. Schließlich erfüllt das Hellblau des Himmels den gesamten Bildausschnitt und fokussiert in Zeitlupe erst eine einzelne Taube, dann einen ganzen Schwarm. Gleich dem Blick der Männer, die sich just als eine Gruppe von Vogelbeobachtern herausstellen, bleibt die Kamera nun ganz bei den Tieren, die ihrerseits nicht hörbaren Kommandos zu folgen scheinen, mal in die eine, dann in die andere Richtung fliegen, während einige Tauben regelrechte Purzelbäume in der Luft schlagen.
In ihrer neuen Videoarbeit „SSRC“ (2022) gewährt die deutsch-iranische Künstlerin Yalda Afsah Einblick in den titelgebenden Secret Society Roller Club in Compton – jenem berüchtigten Vorort Los Angeles‘, dessen Alltag stark von Bandenkriminalität und einer hohen Mordrate geprägt ist. Beim SSRC dreht sich alles um sogenannte roller pigeons, besondere Taubenarten, die verschiedenste Kunststücke wie Saltos oder Pirouetten im Flug vollführen können. Unter Züchter*innen erfreuen sich die Vögel größter Beliebtheit und werden von diesen für Flugwettbewerbe genutzt. In cineastischen Zeitlupenaufnahmen präsentiert Afsah in „SSRC“ die spektakulären Kunststücke der Tauben in der Luft, die sich mitten im Flug plötzlich in den Sturzflug begeben und dabei Mehrfachsaltos vollziehen. Dann wieder fängt die Kamera Dialogfetzen der Clubmitglieder auf, gibt kurze Erzählungen der Züchter wieder oder zeigt die Tiere in ihren heimischen Taubenschlägen.
„SSRC“ ist die neueste Arbeit einer Reihe, in der sich die Künstlerin dem ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und (domestiziertem) Tier stets in einem sehr spezifischen Zusammenspiel widmet: Arbeiten wie „Tourneur“ (2018), „Vidourle“ (2019) und „Centaur“ (2020) beschäftigten sich beispielsweise mit Themen der Fürsorge und Unterdrückung innerhalb der Pferdedressur, oder der Tradition des Stierkampfs. Dabei bedient sich die Künstlerin einer dokumentarischen Form, die im Laufe der Arbeiten jedoch immer wieder aufbricht. Und so verfremdet Yalda Afsah auch in „SSRC“ subtil die Tonebene – oszillierend zwischen naturalistischen, hyperrealistischen O-Tönen und eigenem Sounddesign – und zieht Betrachtende mit ihrer poetisch anmutenden Bildgestaltung in den Bann, die sich klar von einer naturalistisch-dokumentarischen abhebt.
Männer klammern sich an Vögel, wie an einen letzten Strohhalm
Merklich rückt so auch in „SSRC“ die Mensch-Tier-Beziehung zunehmend in den Fokus, denn im Comptoner Alltag erfüllen die Tauben neben einer sportlich-hedonistischen Freude am Züchten noch eine ganz andere Rolle: sie verschaffen den Männern, größtenteils Afroamerikaner und Latinos, feste Alltagsstrukturen - oder wie ein Mitglied des Clubs präzisiert: „Sie halten mich von Schwierigkeiten fern“. Denn die Taubenzucht fordert tagein, tagaus mehrstündliche Fürsorge von ihren Clubmitgliedern und lässt damit kaum Zeit für anderes. Jene facettenreiche Beziehung fängt Yalda Afsah auch in den Großaufnahmen von Berührungen immer wieder ein: Mit dominantem, festem Griff halten die Züchter die Tauben in ihren Händen; ein Griff, der wie eine Unterwerfungsgeste erscheint. Im Laufe des Films offenbart sich jedoch immer mehr die Zuneigung und Fürsorge in der Handhabung, der sich die Tauben ihrerseits ganz hinzugeben scheinen. Und so wirkt es dann fast, als klammerten sich vielmehr die Männer an ihre Vögel, wie an den letzten Strohhalm, der ihnen im Alltag geblieben ist.
Das Tier als sozialer Kitt
Als weiteren Film hat sich Yalda Afsah „Les Proies” (2018) der französischen Regisseurin Marine de Contes ausgesucht. Der Dokumentarfilm führt in ein kleines Waldstück im südwestlichen Frankreich, wo eine kleine Personengruppe Tätigkeiten nachgeht, die dem unwissenden Publikum reichlich seltsam vorkommen müssen: In der frühen Morgendämmerung bindet ein Mann eine Taube an eine Eisenstange, die im Folgenden über einen Flaschenzug hoch in die Wipfel gezogen wird; ein anderer befördert gleich einen ganzen Nistkasten hoch in die Baumkronen. Nachdem die Männer anschließend eine überdimensionale Netzfalle aufgespannt haben, ziehen sie sich zurück in eine Art Unterstand.
Ohne dem Publikum irgendwelche Erklärungen mit an die Hand zu geben, begleitet Marine des Contes gut 50 Minuten die klandestine Gruppe in dem kleinen Waldstück. Im Verlauf des Tages gesellen sich immer mehr Personen dazu, trinken Tee, beobachten aus einem Ausguck Himmel und Vögel, während sie merkwürdige Apparaturen bedienen oder durch ein langes Grabensystem laufen, das an den Unterstand angeschlossen ist. Erst gen Ende bestätigt sich, was der Filmtitel bereits andeutet. Das eigensinnige Treiben der Gruppe wird enthüllt: Bei den Personen handelt es sich um Jäger, die rund um ihre ausgefallene Hütte – eine Palombière – auf ihre Beute, die Ringeltauben, warten. De Contes wurde rein zufällig auf diese lokale, selbst in Frankreich vielerorts kaum bekannte Art der Jagd aufmerksam. Fasziniert von den merkwürdigen Konstruktionen und selbstgebauten Apparaten, die sich die Jäger zu Eigen machen, beschloss die Filmemacherin, deren Treiben zu dokumentieren und die unwissenden Zuschauenden ebenso unvorbereitet ins Geschehen zu werfen.
„Les Proies” gewährt so trotz seiner ruhigen Inszenierung einen spannenden Einblick in den Alltag jener traditionsreichen Gruppe und zeichnet deren Verquickungen mit der sie umgebenden Flora und Fauna nach. Aufwand und Ergebnis stehen hier in keinem zweckhaften Verhältnis, verbringen die Jäger doch bis zu zwei Monate in ihrer aufwändig konstruierten Jagdhütte, während die Beute keineswegs jeden Tag üppig ausfällt. In den Vordergrund rückt vielmehr das besondere Verhältnis der Gemeinschaft untereinander sowie gegenüber Tier und Natur. Die Funktion eines sozialen Kitts übernimmt die Taube demnach sowohl in „SSRS“ als auch in „Les Proies“ – wenngleich mit denkbar unterschiedlichen Konsequenzen für das Tier.