Für Timm Ulrichs ist die Trennung von Leben und Kunst obsolet. Das Porträt eines "Totalkünstlers" auf dem SCHIRN MAGAZIN
Ein junger Mann, dunkle Haare, Brille, zeittypisch adrett gekleidet, sitzt auf einem Stuhl, von einem Glaskasten umschlossen. 1966 präsentierte sich der damals 26-jährige Künstler Timm Ulrichs in der Frankfurter Produzentengalerie Patio als „erstes lebendes Kunstwerk“.
Ein Jahr zuvor noch war Ulrichs mit seinem Vorhaben gescheitert. Die Juryfreie Kunstausstellung in Berlin lehnte das „erste lebende Kunstwerk“ im letzten Moment ab, eine groteske, bürokratische Begründung nachreichend. Die Aktion lässt an Gilbert & Georges „Singing Sculpture“ von 1970 denken und gilt als Initialzündung für Ulrichs' umfängliches Œuvre. Die Vermessung des eigenen „Ich“ nimmt darin eine wichtige Rolle ein.
Die Neigung zur Buchstäblichkeit
Für sein „Autobiografisches Tagebuch vom 12.9.1972“ ließ Ulrichs seine Herzfrequenz, seine Atemgeräusche und seine Hirnströme aufzeichnen. Seine Befindlichkeit wird gleichsam auf das objektiv Messbare, auf zuckende Striche reduziert. Ähnlichkeiten zur Minimal Art sind nicht beabsichtigt. Der Subjektivität einer genialen Künstlerhand setzt Ulrich Körperdaten entgegen.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte um 1963 Robert Morris, dessen „Brain Portrait“ nichts anderes als die grafische Darstellung der elektrischen Aktivität des Gehirns des Künstlers ist. Ulrichs' Neigung zur Buchstäblichkeit wird hier schon deutlich. Wenn zum Beispiel ein Werk aus dem Jahr 2010 „Wolf im Schafspelz – Schaf im Wolfspelz“ heißt, dann handelt es sich um exakte plastische Nachbildungen eines Wolfs in einem Schafspelz und eines – Sie ahnen es schon! – Schafs in einem Wolfspelz.
Ulrichs definiert sich als „Totalkünstler“
1975 inszenierte sich Timm Ulrichs während des Internationalen Kunstmarkts Köln, der heute als Art Cologne bekannten Kunstmesse, mit Blindenstock und -armbinde. Ein ihm umgehängtes Schild trug den Text „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ Der Sprachwitz und die Doppeldeutigkeit, die dieser Arbeit eigen sind, lassen sich aus Ulrichs' Œuvre nicht wegdenken. „Eine Tautologie ist eine Tautologie ist eine Tautologie …“ lautet der Text einer sich ins Unendliche fortsetzenden LED-Laufschrift.
Ein schon zu Lebzeiten produzierter Grabstein aus dem Jahr 1969 trägt die Inschrift „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!“ Ulrichs definiert sich als „Totalkünstler“. Auch seinen Körper bezieht er immer wieder direkt in sein Werk ein. 1981 ließ Ulrichs sich die Worte „The End“ auf das rechte Augenlid tätowieren. Während der Olympischen Spiele in München 1972 begab sich der Künstler buchstäblich in ein überdimensionales Hamsterrad. Auf einem Hinweisschild war zu lesen: „Ich absolviere täglich einen Marathonlauf – 'auf der Stelle tretend'.“ Unweigerlich muss man dabei an Julius von Bismarck denken, der 2015 die Kunstmesse Art Basel in einer beständig rotierenden, runden Betonschale verbrachte.
Durchsicht durchs Ich
2004 unternahm Ulrichs eine Reise in sein Inneres. Was nach romantischer Weltabkehr klingt, ist sehr konkret. Der Künstler schluckte eine Kapsel, die mit einer winzigen Kamera ausgestattet ist. Am Bildschirm ließ sich so Ulrichs Inneres von der Mundhöhle über die Speiseröhre bis zum Verdauungstrakt nachvollziehen. Der Künstler spricht von der „Durchsicht durchs Ich“.
Immer wieder macht Ulrichs die Unmöglichkeit eines althergebrachten Ich-Bezugs deutlich. Dabei bedient er sich eines wohldosierten trockenen Humors. In der Ausstellung ICH begegnet man einer Zeltplane in der Größe 180 x 102 cm, das entspricht 18360 cm². Die Plane ist beschriftet: „Timm Ulrichs' Körper-Oberfläche“ / „18360 cm²“. Das Werk von 1971 ist als Selbstporträt betitelt. Es verweist mehrfach auf den Künstler, der mit seinem gesamten Körper präsent und zugleich abwesend ist. Ulrichs verfährt nach dem Prinzip „What you see is what you get“. Seine Körperoberfläche wird zwar „exakt“ abgebildet, erlaubt aber kaum Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Künstlers.
Nicht mehr ganz so jung ist Timm Ulrichs mittlerweile, über 75 Jahre alt. In seinem Hannoveraner Atelier, in dem Ulrichs auch wohnt – die Trennung von Kunst und Leben ist für ihn schließlich obsolet! – arbeitet er an mehreren Projekten gleichzeitig. Es bleibt zu wünschen, dass wir noch viel Kunst von ihm sehen können.