Schon längst ist die Hip-Hop-Kultur aus deutschen Städten nicht mehr wegzudenken. Angefangen bei Frankfurt über Heidelberg bis hin zu Bietigheim-Bissingen nahe Stuttgart – diese Städte und Ortschaften haben Hip-Hop-Geschichte geschrieben.
Berlin-Brandenburg
Während die Hip-Hop-Kultur in den USA schon in den 1970er-Jahren durch die legendären Blockpartys von DJ Kool Herc in der Bronx und die vollgesprayten New Yorker Subways Aufsehen erregte, erreichte das neue kulturelle Phänomen Deutschland überwiegend in den 1980er-Jahren. Eine Ausnahme war die Graffiti-Kultur, die Berlin schon in den Siebzigern erfasste. Zunächst sprühten vor allem Personen abseits der Mehrheitsgesellschaft ihre Botschaften an die Wände West-Berlins. Streetart wurde zum Ventil für Stimmen, die in der Gesellschaft oft ungehört blieben. Ende des Jahrzehnts kristallisierte sich sodann eine vielfältige Szene mit unterschiedlichen Stilen und Techniken heraus. Die Künstler*innen griffen aktiv in das Stadtbild ein und nutzten ihre Werke häufig für politische Statements. Die Mauer, die Berlin teilte, wurde zur Leinwand für ihre Botschaften. Denn auch in der DDR gab es Graffiti und Streetart, wenngleich unter stark eingeschränkten Bedingungen. Künstler*innen im Ostteil der Stadt waren dem sozialistischen Realismus verpflichtet. Ihre Freiheit war eingeschränkt, trotzdem nutzten sie die Kunst, um ihre Ideen und Visionen auf die Straßen zu bringen. Bis heute prägen die East Side Gallery als Überbleibsel der Berliner Mauer und Crews wie das Kollektiv 1UP das Stadtbild.
Rap eroberte Berlin hingegen erst in den 1990er-Jahren. Kool Savas entdeckte Battle-Rap in den USA und kehrte davon inspiriert nach Deutschland zurück, um mit seinen provokanten Texten und harten Flows den deutschen Hip-Hop zu revolutionieren. 1996 gründete er die Masters of Rap, ein Jahr später das Duo Westberlin Maskulin mit Taktloss. Ihre kompromisslosen Disstracks polarisierten und wurden teils zensiert, was den Konflikt zwischen Hip-Hop-Kultur und Jugendgefährdung aufzeigte. 1997 rief Marcus Staiger den Royal Bunker ins Leben. In der Kreuzberger Kellerkneipe etablierte er Open-Mic-Sessions nach amerikanischem Vorbild. Aufstrebende Rapper bewiesen ihr Talent und lieferten sich Battles. Nach einem Jahr schloss die Kneipe zwar wegen Mietschulden, aber der Royal Bunker war bereits zum Label avanciert und entwickelte sich zum Zentrum des Berliner Hip-Hop mit Rap-Größen wie Sido, B-Tight, Eko Fresh, Prinz Pi und K.I.Z., die sich dem Label anschlossen und prägende Tracks veröffentlichten.
2001 gründeten Specter, Spaiche und Halil das Independent-Label Aggro Berlin. Mit Sido, B-Tight und Bushido vertrat das Label den harten Gangsta-Rap in Deutschland. Bushidos Debütalbum „Vom Bordstein bis zur Skyline" (2003) markierte den Durchbruch. Seine aggressiven Texte, harten Flows und dramatischen Beats polarisierten, wurden aber auch für Ehrlichkeit und Authentizität gefeiert. Das Album erreichte die Charts, entfachte aber auch Kontroversen aufgrund frauenfeindlicher Texte. Um dem entgegenzuwirken initiierten die Berliner Hip-Hop-Autorin Nika Kramer und die New Yorker Hip-Hop-Fotografin Martha Cooper im Sommer 2008 mit „W B* Girlz“ das erste Hip-Hop-Festival für Frauen in Berlin. Seither wächst die Szene um Berliner Rapper*innen und zeigt mit Artists wie Sookee, Badmomzjay oder Wa33ermann, dass sich female Rap längst einen ganz eigenen Platz im Deutschrap-Olymp erkämpft hat.
Baden-Württemberg: Heidelberg
Entscheidend für die Anfänge von Hip-Hop in Deutschland waren nicht zuletzt die US-amerikanischen Militärs, die den neuen Stil von ihren Heimatbesuchen mitnahmen und verbreiteten – so verwundert es nicht, dass auch Heidelberg mit seinem lange Zeit wichtigsten US-Militärstützpunkt in Deutschland als eine der bedeutendste Brutzellen von Hip-Hop im Land gilt. Ausschlaggebend dafür war insbesondere eine Heidelberger Rap-Gruppe: Advanced Chemistry. Die vier Mitglieder, Torch, Toni-L, Linguist und Gee-One, veröffentlichten ihre Debütsingle „Fremd im eigenen Land“ als Reaktion auf die rassistischen Angriffen in Rostock-Lichtenhagen und zementierten damit sogleich den politischen und gesellschaftskritischen Impact der neuen Kulturströmung.
Neben anderen Rap-Größen, wie den Stieber Twins oder der Deutschrap-Pionierin Cora E., die erst kürzlich zu Gast in der SCHIRN war, wird insbesondere Frederik Hahn aka Torch, der unter dem Namen DJ Haitian Star auf der Eröffnung von THE CULTURE in der SCHIRN aufgelegt hat, in der Hip-Hop-Community als „Godfather of Hip-Hop“ angesehen. Durch seine Teilnahme an Cyphers, Breakdancing und dem ersten deutschen Freestyle-Rap machte er sich früh einen Namen und verhalf deutschsprachigem Hip-Hop dazu, sich im Land zu etablieren – eine Mission, die er auch nach über 40 Jahren Hip-Hop nicht aus den Augen verlor. 2019 erklärte er sich bereit, seine Archivalien für Heidelbergs erstes Hip-Hop-Archiv bereitzustellen, um die deutschsprachige und Heidelberger Hip-Hop-Kultur zu dokumentieren. Und genau damit legte er den Grundstein, durch den Heidelberger Hip-Hop 2023 von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe erklärt wurde.
Sachsen: Leipzig, Radebühl, Chemnitz
Doch nicht nur in Westdeutschland, auch in der DDR schwappte Anfang der 1980er-Jahre die Begeisterung für die Hip-Hop-Kultur über. Beflügelt von Rundfunk und Thomas Gottschalks Sendung „Na Sowas” entwickelte sich ab 1983 eine kleine, aber versierte Hip-Hop-Szene und begann zu rappen und zu breaken. Staat und Volkspolizei begegneten der Jugendbewegung mit Skepsis – öffentliche Veranstaltungen wurden aufgelöst, im Laufe der Zeit entwickelte sich aber ein offizielles Fördersystem, mit der die kleine Szene kontrolliert werden sollte. Ein wahrer Hotspot für die noch junge Breakdance-Szene entstand in Leipzig, wenngleich auch diese staatlich gefördert und überwacht wurde. Von 1985 bis 1989 fand der Leipziger Breakdance-Workshop statt, auf dem sich die besten Gruppen der Republik miteinander messen konnten. Andere Säulen des Hip-Hops wie MC-ing und Rap sowie Graffiti hatten ihren Hauptschauplatz durch den Rap-Contest, der vom Rapper und Graffiti-Künstler TJ Big Blaster Electric Boogie organisiert wurde, hingegen in Radebeul. Nach dem Mauerfall führte die Zersplitterung der Szene sowie der Wegfall der staatlichen Förderung zunächst zu einem Rückgang von Hip-Hop-Veranstaltungen. Doch mit Deutschrappern wie Trettmann und Kummer oder dem bekannten Splash-Festival, das von 1999 bis 2006 in Chemnitz stattfand, hat sich in Sachsen im Laufe der Jahre wieder eine treue Deutschrap-Szene etabliert.
Bayern: München
Zeigte sich die Liebe zu Hip-Hop in den vorangegangen Städten insbesondere in Form von Musik und Breaking, wurde sie in München vor allem durch Graffiti sichtbar – nicht umsonst wird die Stadt von Kenner*innen noch heute als „Writer-Stadt” bezeichnet. Grund dafür war vor allem ein Ereignis im März 1985, das als Novum der noch jungen deutschen Graffiti-Szene gilt: Sieben Jugendliche besprühte eine komplette S-Bahn mit bunten Buchstaben und Comicfiguren - der „erste Wholetrain Deutschlands” war geboren. Zugleich war die Stadt Vorreiterin in der Etablierung von „Hall of Fames". Die legal bemalbaren Wände boten Künstler*innen die Möglichkeit, ihre Werke ohne Repressalien zu präsentieren. Die größte „Hall of Fame" Europas befand sich bis 1989 an der Dachauer Straße und trug zur Etablierung Münchens als Zentrum der Street-Art bei. Heute ist die Graffiti- und Street-Art-Szene in München weiterhin lebendig und vielfältig. Zahlreiche Künstler*innen gestalten die Stadt mit ihren Werken und tragen so zum urbanen Flair bei. Musikalisch geben heute vor allem Ebow, Rua, Ali As oder Fatoni den Ton an.
Hamburg
Nach den eher politisch aufgeladenen Anfängen von Deutschrap im vorangegangenen Jahrzehnt folgte Mitte der 1990er-Jahre eine erste Welle der Hip-Hop-Kommerzialisierung, die Hamburg mit voller Wucht erfasste. Die Hansestadt avancierte zum neuen Epizentrum der Deutschrap-Szene; die Absoluten Beginner, Fettes Brot und Dynamite Deluxe eroberten die hiesigen Charts im Sturm. Ihre Botschaft schwankte dabei zwischen Spaß-Rap und Tiefgang. In den frühen 2000er-Jahren formierte sich dann mit der 187 Strassenbande, bestehend aus den Rappern Bonez MC, Gzuz, LX, Maxwell und Sa4, dem Produzenten Jambeatz sowie den Sprayern Frost und Track, eine Art Gegenbewegung. Mit ungefiltertem Gangsta-Rap, Jogginghose, Attitüde und einem Zusammenhalt innerhalb der Crew, der seinesgleichen sucht, mischten sie die Szene auf und behaupten sich seither gegen den Mainstream, ohne dabei auf kommerziellen Erfolg verzichten zu müssen. Und auch heute hat die Hafenstadt als Hotspot des Deutschraps noch lange nicht ausgedient: Ob Eunique, Haiyiti, Kwam E oder Shirin David: Die Rap-Artists von heute scheuen sich nicht vor Chartplatzierungen – ganz so wie ihre Vorgänger*innen in den Neunzigern.
Baden-Württemberg: Stuttgart und Umgebung
Ebenfalls in den 1990ern brachten die Fantastischen Vier frischen Wind in die Deutschrap-Szene. Während aus anderen Ecken des Landes vor allem politische Themen kamen, setzen die Stuttgarter auf gute Laune. Das zahlte sich aus: Denn noch vor den zuvor erwähnten Hamburger Rappern, wie Fettes Brot und Die Beginner, erzielten die Fantastischen Vier als erste deutsche Rap-Crew kommerzielle Erfolge und Chartplatzierungen. Genau das führte in der Szene aber auch zur Kritik. Man warf ihnen vor, nicht „hart" und „echt" genug zu sein. Auf mehr Liebe stieß die Kolchose. Sie formierte sich im Jahre 1992 in Stuttgart und avancierte in den folgenden Jahren zu einem der bedeutendsten Kollektive im deutschen Hip-Hop-Kosmos. Die Gruppe vereinte diverse Akteur*innen der Szene, darunter die Gruppen Freundeskreis, Massive Töne und Afrob, und repräsentierte den Kern der Stuttgarter Hip-Hop- und Streetculture-Szene. Ihr musikalisches Repertoire zeichnete sich durch eine Mischung aus gesellschaftskritischen Texten, humorvollen Elementen und eingängigen Melodien aus. Nach einigen Jahren der Trennung stand die Kolchose 2012 auf dem Stuttgarter Hip-Hop-Festival Hip Hop Open erstmals wieder gemeinsam auf der Bühne.
Während es in den vergangenen Jahren etwas ruhiger um Stuttgarter Rap wurde, scheint sich ganz in der Nachbarschaft derweil eine neue Hip-Hop-Keimzelle zu regen: So gewinnt Bietigheim-Bissingen bei Stuttgart als Heimatstadt von Deutschrap-Größen wie RIN, Shindy und Bausa an Bedeutung.
Nordrhein-Westfalen: Köln, Bochum, Düsseldorf und Bonn
Ebenso formierte sich in Nordrhein-Westfalen eine ausgeprägte Hip-Hop-Szene. So zeichnete sich Köln als Sendestandort des Musikfernsehsenders VIVA spätestens seit der Ausstrahlung der Word Cup-Sendung (moderiert von Tyrone Ricketts) in den 1990er-Jahren durch eine Vielzahl an Hip-Hop-Events – etwa DJ-Scatch- und Beatbox-Weltmeisterschaften, Festivals und Rap-Battles – aus. Etwa zeitgleich, nämlich 1998, brachte die Ruhrpott-AG (RAG) aus Bochum ihr Debütalbum „Unter Tage“ heraus, das für Deutschrap-Größen wie Jan Delay, Kool Savas, Marteria oder auch Curse ein wichtiger Einfluss wurde. In Düsseldorf entwickelte sich ungefähr zur selben Zeit eine stärker auf Tanz bzw. Breaking spezialisierte Szene, die sich durch ihre Battle Culture hervortat und 2004 durch das Funkin’ Stylez Festival als erstes Urban Dance Battle Event in Deutschland über das Bundesland hinaus an Bekanntheit erlangte. Wenige Jahre später machten sich Rapper wie Xatar und SSIO aus Bonn einen Namen. Unter dem von Xatar gegründeten Label Alles oder Nix verbreiteten sie und weitere Artists wie Schwesta Ewa einen Rap, der sich auf kriminalisiertes und/oder tatsächlich kriminelles Leben bezieht.
Rhein-Main-Gebiet: Mainz, Frankfurt und Offenbach am Main
Und auch das Rhein-Main-Gebiet hat eine imposante Hip-Hop-Geschichte aufzuweisen: Durch den Einfluss des US-amerikanischen Militärs etablierte sich in Frankfurt früh eine eingeschworene Hip-Hop-Szene. Schon Anfang der Achtzigerjahre versammelten sich an der Frankfurter Hauptwache im Umkreis von Rico Sparx diverse B-boys und B-girls zu legendären Breakdance-Battles, während im Funkadelic nicht nur Funk gespielt wurde, sondern auch erste Rap-Parts zum Besten gegeben wurden. Im Kontrast zum eher poppig-eingängigen Stil der Fantastischen Vier etabliert sich in der Bankenstadt schon von Anfang an ein deutlich härterer Sound, der sich explizit an der Realität der Straße orientiert. Das zeigte bereits das von Moses Pelham und Thomas Hofman gegründete Rödelheim Hartreim Projekt (RHP) mit ihrem Debütalbum „Direkt Aus Rödelheim", auf dem auch Sabrina Setlur erstmals zu hören war. Sie waren die ersten, die mit hessischem Dialekt und harten Beats erfolgreich waren.
In den 2000er-Jahren hebte Azad mit seinem innovativen Sound und tiefsinnigen Inhalten den Straßenrap auf ein neues Niveau und avancierte zu einem der einflussreichsten deutschen Rappern seiner Generation. Knapp zehn Jahre später tritt Haftbefehl auf den Plan und sorgt mit seinem einzigartigen Stil für eine erneute Zäsur im Deutschrap. Seine ungeschliffene Direktheit und die schonungslose Darstellung seiner Offenbacher Lebensrealität prägen die Szene nachhaltig und begründen seinen Status als einer der wichtigsten Protagonisten des Genres. Auch Celo & Abdi machen sich einen Namen und gründen das Label 385idéal. Der harte Sound und Lokalpatriotismus, für den all diese Rapper so berühmt geworden sind, hat indes schon längst eine neue Generation an Rap-Artists beeinflusst: Davon zeugen Liz und Vega ebenso wie Ramzey und OG Lu.
Doch nicht nur Frankfurt und Offenbach am Main haben eine Hip-Hop-Kultur mit überregionaler Strahlkraft hervorgebracht, auch Mainz und Wiesbaden zeichnen sich durch eine florierende Graffiti- und Rap-Szene mit eigenen Labels wie Sichtexot und Events wie das Meeting-of-Styles-Festival oder der Tapefabrik aus. So wie sie haben noch viele andere deutsche Städte und Artists ihren Teil zur hiesigen Hip-Hop-Geschichte beigetragen, die den Umfang des Artikels jedoch gesprengt hätten - welche genau? Wer das weiß, möge sie in den Kommentaren zum Artikel gerne ergänzen.
THE CULTURE. HIP-HOP UND ZEITGENÖSSISCHE KUNST IM 21. JAHRHUNDERT
29. FEBRUAR – 26. MAI 2024