Sie versah Leinwände, Objekte und Kleidung mit klirrenden Farbkompositionen, die bis heute nichts an ihrer Modernität eingebüßt haben. Ein Portrait der Avantgardekünstlerin Sonia Delaunay.
„Ihre Farben schießen ins Auge: ein Gelb wie die Sonne über Lissabon, ein Blau ohne Bedauern, reueloses Lila, endloses Schwarz.“ Diana Vreeland, New Yorker Modedesignerin und Vogue-Chefredakteurin, liebte das Farbspiel in Sonia Delaunays Kreationen und lobte die Künstlerin, die am Puls ihrer Zeit war: „Alles was sie tat, war so modern wie Jazz.“
Sonia Delaunay, aufgewachsen in St. Petersburg und verheiratet mit dem französischen Maler Robert Delaunay, war eine kreative Pionierin mit Geschäftssinn, ein kompromissloser Freigeist. Sie war der Überzeugung, dass die Erfahrung von Kunst nicht an Orte wie das Atelier oder den Ausstellungsraum gebunden bleiben, sondern in alle Phasen und Bereiche des Lebens integriert werden soll. So tanzte sie leichtfüßig durch die Disziplinen und verwirklichte ihre Vision in Malerei, Mode, Textildesigns, Filmsets wie Theaterkostümen und entwarf Motive für Autos, Spielkarten, Badeanzüge. Sogar eine Neonskulptur kreiert sie, womöglich die erste ihrer Art. Um den von Geschwindigkeit und Mechanisierung geprägten Rhythmus der modernen Welt auszudrücken, setzte sie immer wieder auf das dynamische Zusammenspiel von Dissonanz und Harmonie, von Form und Farbe. Und immer wieder Farbe.
1913 reisen Sonia und Robert Delaunay nach Berlin. Herwarth Walden zeigt in seiner STURM-Galerie Robert Delaunays „Simultan-Gemälde“. Begleitet wird das Paar von ihrem Freund Guillaume Apollinaire, Avantgarde-Dichter und Mitarbeiter der STURM-Zeitschrift, der die Eröffnungsrede hält und in Delaunays Praxis des Simultanismus einführt. Denn nach der Lektüre von Michel Eugène Chevreuls Schrift „De la Loi du contraste simultané des couleurs“ zur Relativität von Farbe und Komplementärbeziehungen beginnen Robert und Sonia, die Dynamik und das Zusammenwirken von Farbkontrasten zu erforschen. Simultanismus ermöglicht eine Erfahrung der Gleichzeitigkeit oder Parallelität: mehrere, einzelne Elemente werden als Ganzes wahrgenommen oder verschiedene Aspekte einer einzigen Sache bieten sich dar.
Simultanismus ermöglicht eine Erfahrung der Gleichzeitigkeit oder Parallelität
Sonias Einbandentwurf für die STURM-Zeitschrift (1912/1913) ist exemplarisch für ihr frühes Experimentieren mit Farbe, Materialität und Form. Auch wendete sie das Simultanprinzip an, um das Gedicht „La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France“ von ihrem Freund und Dichter Blaise Cendrar zu gestalten. Das „Malerei-Gedicht“ wird im selben Jahr auf dem „Ersten Deutsche Herbstsalon“ ausgestellt, der unter Waldens Schirmherrschaft in Berlin stattfindet. Die Delaunays zeigen einige ihrer „simultanen Objekte“. Bei insgesamt 364 Werke von 83 Künstlern und Künstlerinnen ist es jedoch Sonia, die mit 26 Arbeiten am stärksten vertreten ist.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, zieht es die Delaunays in den Süden, sie leben in Spanien und Portugal. Das Paar ist fasziniert von den kräftigen Farben und flimmernden Lichtwelten, die so ganz anders sind als die Grauschleier über Paris und Berlin. „Das Licht in Portugal“, stellt Sonia fest, „ist nicht gewaltsam, es verherrlicht jede Farbe“. Die Villa der Delaunays in Vilo de Conde wird bekannt als „La Simultané“ und zum Anziehungspunkt der portugiesischen Avantgarde. In jener Zeit entstehen Bilder, die vom quirligen Leben im kleinen Ort inspiriert sind: Sonia malt bunte Marktszenen, portugiesisches Spielzeug und Stillleben. In Madrid bekommt Sonia jedoch auch die Gelegenheit, ihr lang gehegtes Interesse an Tanz, Bewegung und Körper mit ihrer Farbtheorie zusammenzubringen.
Sie lernt Serge Diaghilev kennen, ein Kurator, Kritiker und Theaterproduzent, der zu jener Zeit die Formation „Ballets Russes“ leitete. Diaghilev, der bereits in vorherigen Produktionen mit Avantgardekünstlerin arbeitete, lädt die Delaunays ein, sowohl die Kostüme als auch die Bühnengestaltung für das Stück „Cléopâtre“ zu übernehmen. Sonia kreiert für die Hauptdarstellerin ein perlenbesetztes Kostüm aus strahlenden Farben und integriert Kreisformen, um Körperrundungen zu betonen und Bewegung zu evozieren. Zur gleichen Zeit eröffnet mit „Casa Sonia“ in Madrid ihr erstes Ladengeschäft, in welchem sie selbst gestaltete Kleidungsstücke, Taschen, Schmuck und Stoffe verkauft. Das Interieur ist simpel und modern: weiße Wände, Bastteppich, schlichte Raumteiler, kleine runde Tische. Es dauert nicht lang, bis der Erfolg von „Cléopâtre“ und die radikale Modernität ihrer Mode und Einrichtung ihr weitere Aufträge als Kostümbildnerin und Raumgestalterin verschaffen.
Es war mein Leben und ich habe die ganze Zeit gearbeitet. Aber ich habe nicht gearbeitet, ich habe gelebt. Und das ist der Unterschied.
Die 1920er Jahre verbringen die Delaunays wieder in Paris, wo sie sich mit Dadaisten und Surrealisten wie André Breton, Louis Aragon, Jean Cocteau und Tristan Tzara anfreunden. Mit Gedichten von Aragon und Tzara entwickelt Sonia erste „Kleider-Gedichte“: Wörter werden mit geometrischen Formen und Farben kombiniert und auf den Stoff eines Kleidungsstücks gewebt, sodass sich aus Körper, Form, Farbe und Wort ein Zusammenspiel ergibt. 1924 macht sich Delaunay mit einer Textildruckerei selbstständig und beginnt in ihrem „L’atelier simultané“ auch wieder mit der Kreation eigener Entwürfe. Ihre simultane Mode passt gut zur neuen Freiheit der 1920er-Jahre: wenig Details oder Nähte, keine taillierten Schnitte, stattdessen Einfachheit und Bewegungsfreiraum. Durch die perfekt platzierten Drucke der Kleider entsteht zunächst der Eindruck eines zweidimensionalen Tableaus, doch beim Tragen scheinen sich auch die Formen und Farben in Bewegung zu versetzen.
Von der Leinwand in die Welt und zurück, Farbrausch, Bewegung, tanzende Körper - nicht ganz zu Unrecht wird Sonia Delaunays Arbeit ein obsessiver Charakter zugeschrieben. Doch vielleicht ist es treffender, von einer nicht enden wollenden Leidenschaft zu sprechen. Denn sie selbst sagte: „Es war mein Leben und ich habe die ganze Zeit gearbeitet. Aber ich habe nicht gearbeitet, ich habe gelebt. Und das ist der Unterschied.“