SELMA SELMANS künstlerische Praxis lässt sich weder als orts- noch als situationsspezifisch beschreiben; stattdessen scheint sie um das Selbst und seinen steten Wandel zu kreisen. Doch was bedeutet das konkret und auf welche Weise äußert es sich in den Arbeiten der Künstlerin?
Für ihre Einzelausstellung in der SCHIRN haucht Selma Selman Mehrschalengreifern mechanisches Leben ein, sodass sie sich blütenartig öffnen und schließen. In einer Videoarbeit stellt sie die Überquerung einer mit Leichen übersäten Brücke nach, wie ihre Mutter sie einst während des Bosnienkrieges erlebt hatte. Und auf der Höhe der eigenen Stirn schlägt die Künstlerin einen mit Gold beschichteten Nagel in die Wand: Das Edelmetall hat sie zuvor aus Computerteilen herausgelöst.
Selmans künstlerische Praxis ist angeregt von eigenen Erfahrungen, vom Alltagsgeschehen in Bosnien und vom Leben ihrer Familie. In der Folge deckt sie Spannungen rund um Themen wie Identität, Klischeevorstellungen und Erwartungen auf. Die Diskriminierungserfahrung ihrer Gemeinschaft und die Hindernisse, mit denen sich Selman als Bosnierin mit Rom*nja-Hintergrund selbst konfrontiert sieht, finden Niederschlag in ihrer Kunst in Fragen nach Arbeit, Wert, Ungleichheit und Segregation. Oft verbinden sich mit ihren Werken unbequeme und ironische Überlegungen zur eigenen Position im Strudel des globalen Kapitalismus, sensible und gleichzeitig unheimliche textbasierte Bekenntnisse oder auch beunruhigende Darstellungen spinnenartig gelängter, weiblicher Körperteile. Doch wollte man die Komplexität dieser kühnen, trotzigen, einzigartigen künstlerischen Stimme verstehen, die sich Stereotype mit erstaunlichem Gespür zu eigen macht und sie sprengt, greift eine solche Einordnung vielleicht zu kurz.
Eine selbstspezifische Praxis
Selmans Praxis lässt sich weder als ortsspezifisch beschreiben (also eine raumbezogene Praxis, die Besonderheiten eines bestimmten Ortes berücksichtigt und sich in enger Wechselbeziehung mit diesem entwickelt) noch als situationsspezifisch (eine Praxis, die situative Gegebenheiten und Umstände untersucht, sie reflektiert und sich insofern mit zeitlichen Abläufen verbindet), sondern – kann man das überhaupt so sagen? – als selbstspezifisch. Wenn wir den Begriff „Selbst“ in erster Linie im Sinne von Identität, Charakter und wesentlichen Eigenschaften verstehen und in zweiter Linie als das gemeinschaftlich-soziale und biopolitische Umfeld, in dem sich das „Selbst“ konstituiert, dann beschränkt sich dieses nicht auf eine Reihe angeborener Merkmale und auf eine Herkunft, die für es bestimmend ist. Vielmehr schließt das „Selbst“ dann auch erworbene Eigenschaften sowie die Vorstellung von Weiterentwicklung und Imagination, Zielsetzungen und Zukunft ein. Beide Bereiche verwebt Selma Selman in ihrer künstlerischen Praxis zu einem elastischen Gewebe, das sie frei formt und trägt. Sie ist sowohl ihr gegenwärtiges Selbst als auch ihre möglichen künftigen Formen von Selbstsein, die sich im Prozess einer transformativen Selbstspezifität herausbilden.
„Ich habe mir Wertschätzung gegeben und mich selbst erschaffen [...] Ich begründe meine eigenen Erzählungen“ – sagt sie 2022 in einem Videointerview anlässlich ihrer Einzelausstellung im Kunstraum Innsbruck.
Selman betrachtet und betitelt viele ihrer Werke als „Selbstporträts“, ganz gleich, ob diese nun die Form von Zeichnungen, Performances oder Gemälden annehmen. Ihre Arbeiten verdichten mehrere Schichten von Selmans Selbstheit und gestatten uns einen Blick auf ihre vergangenen Erfahrungen und ihre gegenwärtige Situation, auf ihre mögliche oder imaginierte Zukunft sowie gelegentlich auch auf eine fiktiv-realistische Mischung oder Überlagerung dieser Dimensionen, die – anders als die in vergleichbarer Weise selbstspezifische Kunstpraxis eines Joseph Beuys – jedoch nicht in einem Mythos kulminieren. Was also verbindet „Self-Portrait I“ (2016), eine Performance in den Straßen von Rijeka, wo die ein geblümtes Kleid tragende Künstlerin eine Waschmaschine mit einer Feuerwehraxt zerstörte, ihr Gemälde „I’m a Lady like my Mother“ (2020), in dem ihre eigenen Züge und die ihrer Mutter ununterscheidbar verschmelzen, und ihr Projekt „Motherboards“ (2023 – fortlaufend), in dem sie und männliche Mitglieder ihrer Familie Elektronikschrott zerlegen, um an die Hauptplatinen und das in ihnen enthaltene Gold zu gelangen?
Ich habe mir Wertschätzung gegeben und mich selbst erschaffen [...] Ich begründe meine eigenen Erzählungen
„Transformation steht im Mittelpunkt meiner Praxis: Metallschrott wird zu Gold, stigmatisierte zu prestigeträchtiger Arbeit, Handlungsunfähigkeit zu Findungsreichtum“, sagt sie in einem kürzlich geführten Interview mit Frieze anlässlich ihrer im Berliner Gropius Bau gezeigten Ausstellung „Her0“ (2023/24). Zu diesem Zweck verwandelt sie selbst auch immer wieder das Gewebe ihres diskursiven visuellen Schaffens, trennt es auf und verwebt es aufs Neue. Dabei scheint eine Durchlässigkeit zwischen den Medien auf, die es der Künstlerin erlaubt, Fragen in einer Weise zu stellen, wie sie bisher noch nicht formuliert wurden, und Statements so zu setzen, wie sie nie zuvor geschrien wurden.
Steter Wandel
In dem Film „Crossing the Blue Bridge“ (2024) stellt Selman die Erinnerungen ihrer Mutter nach, die 1994 während des Bosnienkrieges zusammen mit der Schwester der Künstlerin eine Brücke in ihrer Heimatstadt Bihać überquerte. Die Mutter hielt damals dem Mädchen die Augen zu, um ihm Anblick der auf der Brücke liegenden Leichname zu ersparen, während der Wind ihr die Haare in die Augen wehte. Die Überquerung dauerte nur drei Minuten, schien sich aber endlos hinzuziehen. Während der 27 ebenso unheimlichen wie eindringlichen Filmminuten überlagern und überblenden sich die Aufnahmen in einem Loop, der Realität und Fiktion ineinander übergehen lässt. Der Wind weht Selma immer wieder die Haare in die Augen, als sie in einer Reinkarnation ihrer Mutter, aber auch der ihrer Schwester, deren Augen verdeckt waren, auftritt. Selma ist sowohl die Mutter als auch das Kind, verwandelt sich in beide und dann wieder in sich selbst in einer inszenierten Multipotenz, in der das kathartische Reenactment und die Transzendierung eines traumatischen Ereignisses untrennbar miteinander verschmelzen.
Das Werk „Motherboards (Golden Nail)“ ist Teil eines vielschichtigen Großprojekts, das eine Performance, eine Videoarbeit, vier auf Mercedes-Motorhauben gemalte Porträts, eine Installation aus zerlegten Rechenprozessoren sowie einen vergoldeten Nagel umfasst. Motherboards sind zentrale Bestandteile von Computern, sie verbinden alle weiteren Komponenten miteinander – etwa Prozessoren, Speicher, Festplatte und Videokarte – und dienen insofern als deren „Mütter“. Metaphorisch zieht Selman eine Parallele zwischen Motherboards und Romnja-Frauen, wobei Letztere durch ihre Zuschreibung als Ehefrauen und Mütter in einer männlich dominierten Gesellschaft gleichermaßen unsichtbar sind wie Erstere in Computern. Doch dienen die Hauptplatinen nicht nur als Sinnbild, sie bilden auch das Rohmaterial, aus dem die Künstlerin Gold extrahiert: mithilfe einer ungiftigen Technik, die sie auf Grundlage eines wiederbelebten, 1000 Jahre alten Verfahrens entwickelt hat. Mit dem aus 200 Motherboards gewonnenen Gold beschichtete Selman anschließend einen Nagel, als Symbol für die zentrale Rolle, die Romnja-Frauen in ihrer Familie spielen – trotz ihres unsichtbaren sozialen Status.
„Wir werden erst dann frei sein, wenn wir mehr wert sind als Gold“ – wiederholt sie in ihrer Performance „Motherboards“ und verweist damit auf die Bedeutung des Edelmetalls in der Rom*nja-Kultur, aber auch auf die fiktive Kraft der Alchemie.
Aufblühen im Loop
Altmetall in Kunst verwandeln, entsorgte Geräte zu Gold transformieren, stigmatisierte Arbeit in Wertschöpfung transzendieren: Die Intention der Künstlerin entfaltet sich in (re)zyklischer wie in spiralförmiger Weise. Selman schöpft aus ihrer Identität, ihrer Herkunft und ihrem biopolitischen Kontext und gibt der eigenen Gemeinschaft in einer transformativen Ökonomie der Inspiration etwas zurück. Ob sie nun mit ihrem Projekt „Get the Heck to School“ Romnja-Mädchen durch Bildung stärkt oder Wissen über die Gewinnung von Gold aus Altmetall an ihre Gemeinschaft weitergibt, um Auswege aus der Armut aufzuzeigen – ihr Aktivismus wird angetrieben von der Kraft der Transformation und will Stigmata in Anerkennung und Legitimität verwandeln.
Selma Selman verfolgt zwei Ziele: die Umkehr des die Rom*nja-Gemeinschaft umgebenden Stigmas sowie die Neuaneignung von Bereichen, die historisch männlich geprägt waren: Technologie, Geld, Schrift und Sprache. Doch lässt sich ihr Kampf nicht auf die Masse ausweiten; ihre Freiheit artikuliert sich weder in der großen Masse unterdrückter Minderheiten noch in der spezifischen Gruppe ihrer Gemeinschaft. Nicht im Kampf gegen Unterdrückung findet diese Freiheit ihre wahre Entfaltung, sondern in Selmas selbstspezifischer, transformativer Kreativität, in ihrer ständigen visuellen und konzeptionellen Metamorphose sowie in der Weise, wie es ihr gelingt, immer wieder als ein anderes Wesen aufzublühen und zu erwachen.