Gianni Jovanovic setzt sich seit Jahren für die Rechte und Destigmatisierung von Sinti*zze und Rom*nja ein und gilt als der vermutlich bekannteste queere Rom des Landes. Wir haben mit ihm gesprochen – über Aktivismus in der Rom*nja-Community, Antiziganismus und die Notwendigkeit einer starken Erinnerungskultur.
Herr Jovanovic, die Künstlerin Selma Selman, die wir aktuell in der großen Einzelausstellung „Flowers of Life“ zeigen, engagiert sich seit 2017 mit ihrem Projekt „Go the Heck to School“ dafür, dass Kindern aus der Rom*nja-Gemeinschaft in Bihać (ihrer Heimatstadt) Stipendien und Schulmahlzeiten zur Verfügung gestellt werden. Durch Fundraising-Veranstaltungen und den Verkauf ihrer künstlerischen Arbeit finanziert und leitet sie das Projekt persönlich.
Auch Sie verfolgen eine aktivistische Praxis: Mit der Gründung Ihrer Initiative „Queer Roma“, dem Verein „Safe Space” und Ihrem Engagement für das Kollektiv „Colours of Change“, setzen Sie sich seit Jahren für die Rechte, Sicherheit und Sichtbarkeit von queeren Schwarzen Menschen und People of Color ein. Darüber hinaus sind Sie seit 2021 Mitglied des Kollektivs „Coalition of pluralistic public discourse“, das sich mit pluralistischer Erinnerungskultur befasst. Wie kamen Sie zum Aktivismus?
Gianni Jovanovic: Der Aktivismus ist eigentlich durch meine Lebensumstände entstanden. Ich habe irgendwann mal einen Politisierungsprozess durchlebt, so mit Anfang 30, wo ich das allererste Mal das Gefühl hatte, dass mir eine Person gegenübersitzt (Oyindamola Alashe, eine Schwarze sehr gute Freundin von mir), die meine Erfahrungen nicht negiert hat. Ohne dass ich das Rassismus-Wort benutzt habe, erzählte ich von den Vorurteilen, die Leute mir gegenüber äußerten, von den Fragen, die sie mir stellten, die sehr persönlich waren und mich immer irgendwie dazu gebracht haben, meine gesamte Lebensgeschichte erzählen zu müssen, nur um am Ende dann trotzdem negiert zu werden. Auch von den Sachen, die ich in der Schule erlebt habe, Lehrer, die mir gegenüber rassistisch waren oder auch rassistische Gewalt, die ich mit 4 Jahren erlebt habe, erzählte ich. Oyindamola hat das alles nicht negiert, sondern einfach nur zugehört und mir zugestimmt. Damit kam die Politisierung.
Mein Engagement gegen Rassismus, Antiziganismus und die ganzen anderen Projekte sind dann tatsächlich aus der Intersektion entstanden. Dadurch, dass ich verstanden habe, dass Sinti*zze und Rom*nja per se, egal welchen Genders sie sich zugehörig fühlen, intersektional diskriminiert und verfolgt werden. Dazu kam bei mir, bedingt durch meine eigenen Erfahrungen von Mehrfachdiskriminierung, der Wunsch auf, diese selbstermächtigt sichtbar zu machen und darüber zu reden. Ich wollte den Menschen nicht das Gefühl geben, dass ich ein Alien bin, sondern vermitteln, dass das, was diese Diskriminierungen mit mir machen, etwas sehr Menschliches ist. Und das war die Ebene, wo ich die Leute gepackt habe, auch wenn meine Erfahrungen für sie zum Teil nicht nachvollziehbar waren – gerade für weiße Menschen.
Können Sie uns einen Einblick in die zuvor genannten Initiativen geben: Welche Ziele und aktuellen Projekte verfolgen Sie mit Ihrem Engagement, beispielsweise mit „Queer Roma“? Und wie kam die Initiative zustande?
Gianni Jovanovic: Die Idee zu „Queer Roma“ entstand 2015. Nach den Vorkommnissen in der Kölner Silvesternacht, hatten Silas Kropf, Nadzeka K., Joschla Weiss, Paul Mitscher und ich das Gefühl, dass wir die Vielfalt von „kanakischem“ und queerem Leben sichtbar machen wollten. Die Anschuldigungen an muslimisch gelesenen Menschen waren zu der Zeit schlichtweg untragbar – das wollten wir nicht auf uns sitzen lassen. Wir wollten im Widerstand unsere Selbstermächtigung erzielen und es gab niemanden vor uns, der sich das als queerer Rom*nja in Deutschland getraut hat.
Unter unseren aktuellen Projekten freut mich besonders, dass das „Queer Roma“ dieses Jahr auch auf den Straßen Berlins aktiv wird: Wir werden zusammen mit den Initiativen Ini Rom*nja und RomaniPhen e.V. als soweit ich weiß erste große Rom*nja-Gruppe auf dem IQP Pride March laufen. Wenn ihr uns unterstützen und Allies sein wollt, dann seid ihr alle herzlich eingeladen, uns bei dieser Parade zu folgen: Los geht’s am Samstag, den 27. Juli, um 15 Uhr am Hermannplatz Berlin. Ihr erkennt uns an der großen Rom*nja-Flagge, die wir mit uns tragen.
Gibt es Vorbilder aus der Rom*nja-Community, die Sie zu diesen so vielfältigen Formen des Aktivismus inspirieren?
Gianni Jovanovic: Ich bewundere sehr viele Aktivisten und Aktivistinnen aus unserer Community, die in der frühesten Zeit ein Vermächtnis hinterlassen haben, für das ich heute sehr dankbar bin – ohne sie wäre auch ich nicht. Da ist für mich persönlich Fatima Hartmann eine sehr, sehr wichtige Aktivistin, gerade hier in Nordrhein-Westfalen hat sie viel für das Bleiberecht der Sinti*zze und Rom*nja gekämpft. In den 80er-Jahren hat sie viele Menschen vor der Abschiebung gerettet – zum Teil auch Leute aus meiner eigenen Familie, die bis heute hier in Köln leben und sicher sind. Dafür bin ich ihr sehr dankbar, sie hat wahnsinnig viel Arbeit gemacht, die aber nicht so in der Öffentlichkeit stand wie beispielsweise die ehrenwerte Arbeit von Romani Rose. Rose ist Mitbegründer des 1982 entstandenen Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und hat damit natürlich auch ganz viele Forderungen gestellt und politisch essentielle Arbeit geleistet – und das bis heute mit über 70 Jahren. Es gibt aber auch Aktivist*innen aus der Vergangenheit, die mich stark bewegen. Darunter Papusza, Ćaja Stojka und Johann Wilhelm Rukeli Trollmann. Letzterer ist für mich einer der größten Vorbilder. Ein Profiboxer, der hier in Deutschland gekämpft hat und am Ende im Konzentrationslager Wittenberge bei Hamburg erschlagen wurde. Es gibt aber auch Persönlichkeiten, die man nicht kennt, mich aber trotzdem sehr inspirieren.
Wer zum Beispiel?
Gianni Jovanovic: Azis – ein bulgarischer Sänger und Popstar im Balkanraum, der auch selber Roma und schwul ist. Das ist jemand, der zwar nicht so viel aktivistische Arbeit macht, aber trotzdem durch das, was er ist und wie er dazu steht, sehr politisch ist. Aber es gibt auch in meinem privaten Umfeld sehr viele Aktivist*innen, die ich sehr bewundere - unter anderem Svetlana Kostić, die Geschäftsführung von RomaniPhen e.V.. Diese Frau ist einfach unfassbar. Sie hat 6 Kinder, auf dem zweiten Bildungsweg studiert und ist heute Leiterin dieses so wichtigen Vereins.
Im Jahr 2023 zählten die Behörden 1.233 antiziganistische Straftaten – im Vergleich zum Vorjahr haben sich die Vorfälle damit verdoppelt, sie stellen einen neuen Höchststand seit Beginn der Erfassung dar. Trotzdem sind Angriffe dieser Art in Deutschland nichts Neues. Auf das Haus Ihrer Familie in Darmstadt wurde 1982 ein Brandanschlag verübt, als Sie vier Jahre alt waren. Durch einen Pflasterstein, der auf Sie geworfen wurde, wurden Sie schwer verletzt. Inwiefern hat sich der Antiziganismus in Deutschland in Ihren Augen seit her verändert – entspannte sich das Klima zwischenzeitlich und hat sich heute wieder bedrohlich zugespitzt oder wird es heute nur besser erfasst und wahrgenommen?
Gianni Jovanovic: Ich glaube, auf der einen Seite ist es schon so, dass diese Vorfälle ja nur diejenigen sind, die gemeldet wurden, während die meisten Menschen sowas gar nicht erst zur Anzeige bringen. Das heißt, die Dunkelziffer ist sehr groß und diese Meldestelle ist erst seit kurzem aktiv. Wir reden aber eigentlich über etwas, das schon seit Jahrhunderten passiert, aber noch nie irgendwie valide in Zahlen ausgedrückt wurde. Sobald Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland wieder eine große Salonfähigkeit erhalten, ist der Antiziganismus genauso am Kommen. Im Vergleich zu anderen Rassismen ist es aber so, dass gerade diese Form des Rassismus eine eher geduldete ist, die auch einen Status quo aufzeigt. So viele Menschen sagen, „die sind halt so“, „die sind halt kriminell“ oder „guck doch mal, wie die leben, was für Häuser die haben“ und „wie alle betteln“ und das ist das, was sie quasi sichtbar in ihrer Umgebung als Sinti*zze und Rom*nja wahrnehmen. Die meisten von uns sind aber gar nicht sichtbar, ich würde mal sagen 98% der Sinti*zze und Rom*nja in Europa bleiben gewollt ungesehen. Das bedeutet nicht, dass die Gruppen, die in Rumänien oder in Griechenland sehr leiden, unsichtbar sind. Natürlich werden diese Menschen gesehen, aber das ist auch nur ein Teil der Population unserer Bevölkerung, wir reden hier von über 16.000.000 Menschen, vielleicht noch mehr.
Und geht der Wunsch nach Unsichtbarkeit von der Sinti*zze und Rom*nja-Community selbst aus oder wird sie ihnen von außenstehenden Medien oder Akteur*innen aufgedrückt?
Gianni Jovanovic: Ein Beispiel: Meine Oma hat mir schon bevor ich zur Schule gegangen bin das allererste Mal gesagt: „Sag niemandem, dass du ein Roma bist.“ Die meisten sagen also irgendwas anderes, weil sonst so viele Klischees und Vorurteile auf einmal bei den Leuten hochklappen, wodurch es so viel schwieriger wird, mit der anderen Person irgendwie auf Augenhöhe zu kommen. Diese stereotypisierten Bilder schwingen da immer ganz stark mit, sowohl auf romantisierende Art und Weise als auch auf diskriminierende. Wenn du dadurch, dass du deine Identität und ethnische Zugehörigkeit aussprichst, alltäglich Rassismus und Diskriminierung, Ausgrenzung im Arbeitsmarkt und so viel mehr ausgesetzt bist, trägt das natürlich dazu bei, dass du dich diesen Mikro- und Makroaggressionen oder auch der systematischen Gewalt entziehen willst.
Deshalb haben die Betroffenen heute (auch mit Blick auf die Schrecken der NS-Zeit) anders gelernt, damit umzugehen. Sie haben heute die Möglichkeit, darüber zu sprechen, soziale Netzwerke zu benutzen und selbstbestimmt zu zeigen, was und wie sie sich auch immer zeigen wollen.
Klar wird das irgendwelche Leute in irgendwelche Stereotypen bestätigen, am Ende des Tages ist es aber eine sehr heterogene Gruppe – genauso wie die deutsche Bevölkerung und überhaupt die Menschheit.
Dieses Jahr wurde neben dem Porajmos-Gedenktag am 2. August, der an die Opfer des Völkermordes an den europäischen Rom*nja zur Zeit des Nationalsozialismus erinnert, auch erstmals ein Gedenktag für das Massaker von Srebrenica eingeführt, der den Genozid am 11. Juli 1995 in Erinnerung ruft, in dessen Folge 8.000 bosnische Muslim*innen (überwiegend Männer) ums Leben kamen. Wie wichtig sind diese Gedenktage – auch gerade mit Blick auf Ihre Arbeit im Kontext pluralistischer Erinnerungskultur?
Gianni Jovanovic: Fokussieren wir uns mal auf Srebrenica. Es ist so wichtig, dass man über das, was da eigentlich passiert ist, diesen Völkermord, der insbesondere bosnische Männer und Kinder traf, in Westeuropa spricht. Ich war zwar noch sehr jung, aber ich habe es in den 90er-Jahren mitbekommen und Srebrenica war und ist der Schrecken, der – obwohl er so viele Jahre zurückliegt – immer noch irgendwie in mir drin ist. Dass er jetzt sichtbar gemacht wird, ist wichtig für die Familien, vor allem für die Kinder und Frauen und für die Opfer. Noch bedeutsamer ist es, dass man die Betroffenen sprechen lässt und die Geschichte von Srebrenica, aber auch vom Bosnienkrieg allgemein, aus ihrer Perspektive zeigt. Das ist essenziell für die Heilung dieser Menschen, aber auch ein gesellschaftlicher Heilungsprozess muss dadurch stattfinden und angetrieben werden. Es muss eine soziale Nachhaltigkeit für Menschen im Umgang miteinander stattfinden, und das kann pluralistische Erinnerungskultur zusammen mit der Politik schaffen.
Beginnen muss man damit meiner Meinung nach schon ganz früh, damit man einfach und leicht an diese Themen herangeführt wird, obwohl sie so schwer sind. Damit man sie als erwachsene Person dann auch wirklich versteht und weiß, wie schnell Demokratie und Frieden in Diktatur und Krieg umkippen können. Unsere Demokratie ist erst 80 Jahre alt und unser Grundgesetz eines der besten der Welt: Es schützt ganz viele Menschen und gibt ihnen Teilhabe. Es ist so wichtig, dass wir uns daranhalten und versuchen, uns daran zu erinnern, dass wir am Ende doch ein christliches Land sind. Auch wenn dieses Christentum noch so befleckt ist, am Ende macht uns Solidarität und Nächstenliebe aus. Darauf ist dieses Land aufgebaut – das sieht man an den Strukturen, auch wenn sie in vielen Dingen noch sehr ausbaufähig sind und längst nicht alle daran partizipieren.
Trotzdem würde ich behaupten, dass es uns in Deutschland viel besser als in vielen anderen europäischen Ländern geht. Gerade jetzt muss mit Blick auf die Wahlen aber klar sein, dass nichts nach rechts außen wählbar ist und dass wir trotzdem durch schwerere Zeiten gehen, uns streiten und von mir aus auch innerlich radikalisieren können, doch am Ende des Tages braucht es den gemeinsamen Konsens, die Mitte und Menschen aller Couleur, Konfessionen und Geschlechter. Wir müssen mit allen Menschen am Ende des Tages reden, um den Frieden in diesem Land zu behalten und die Sicherheit gerade für marginalisierte Gruppen in diesem Land zu gewährleisten.
Und Erinnerungskultur und Gesprächsbereitschaft sind zentrale Werkzeuge für diesen Prozess?
Gianni Jovanovic: Genau, es gibt zum Glück Leute, die heute noch die Kraft haben, über den Horror von Srebrenica oder Porajmos zu sprechen, den sie selbst miterleben mussten. Aber bald nicht mehr und dann haben wir ein großes Problem. Wie gehen wir dann mit diesen Geschichten um, was erzählen wir unseren Kindern, was erzählen wir in unseren Familien und unserem Freundeskreis und vor allem, was erzählen die Politiker*innen – beispielsweise über den Holocaust?