Selma Selman erschafft ihre Poesie der Zukunft aus dem Erbe mehrerer Rom*nja-Generationen und verbindet sie mit der subjektiven Geschichte ihrer Familie. Ihr Werk zeigt, dass jede Auseinandersetzung mit Minderheiten und Kolonisierten mit dem Zuhören beginnen muss.
Selma Selman belässt es nicht bei scheinbaren Erfolgen: Ihre Weisheit ist generationenübergreifend, und so blickt die Künstlerin in Richtung einer Zukunft, die wir uns vielleicht nicht einmal vorstellen können. Ihre eigene Poesie der Zukunft erschafft sie aus dem Rom*nja-Erbe mehrerer Generationen und verbindet sie mit der subjektiven Geschichte ihrer Familie, die aus der Stadt Bihać in Bosnien und Herzegowina stammt. Selmans Live-Performance „Mercedes Matrix“ bestand aus der Zerlegung eines gebrauchten Mercedes Benz, von dem zahlreiche Bestandteile in der Gemäldeserie „Paintings on Metal“ wiederverwendet wurden.
In der SCHIRN installiert die Künstlerin riesige mobile Blumeninstallationen, für die gebrauchte Mehrschalengreifer transformiert wurden. Die Greifer erwachen zu neuem Leben als sich öffnende und schließende Blütenblätter, die geradezu anthropomorph wirken und mit Augen bemalt sind, einige davon zudem mit Tränen. Der begleitende Geruch von Benzin verstärkt die Spannung zwischen dem Bild fragiler Blumen einerseits und dem robusten Metallschrott andererseits und eröffnet einen Raum für die Betrachtung von Schönheit ebenso wie von Beständigkeit, ja Resilienz. Selmans künstlerische Strategie nutzt das Wissen ihrer Familie, um Schönheit und Wertschätzung zu finden – in dem, was andere als wertlosen Abfall ansehen.
Kraft und Wissen von Generationen
Selmans Zeichnungen der Werkreihe „Superpositional Intersectionalism“ speisen sich zugleich aus dem Bewusstsein der Rom*nja über das Leben, das Universum und unsere planetarische Verbundenheit. Der Begriff „Tajsa“ bedeutet in der Sprache Romanes Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen. Er transportiert die Überzeugung, dass der Mensch – wie es die Überlagerungstheorie der Quantenphysik ja auch bewiesen hat – in einer unendlichen Anzahl potenzieller Zeiten und Möglichkeiten existiert. Die gezeichneten Selbstporträts der Künstlerin erweitern die Form des menschlichen Körpers und gehen über seine Grenzen hinaus.
Selmans unerschrockener Feminismus beginnt mit der Stärke und Widerstandskraft ihrer Mutter. Durch sie gibt die Künstlerin weiteren bosnischen Frauen Sichtbarkeit und eine Stimme – nimmt Positionen ein, in denen sich die Kraft von Generationen vermittelt, die Selmans Aktivismus beflügeln. Liebe und Sinnlichkeit erfüllen ihre frühen der Mutter gewidmeten Werke. Aus dem ersten Ausflug ans Meer mit ihrer Mutter entstand die Videoarbeit „SALTWATER AT 47“ (2015/16), die ihre erste Begegnung mit der Adria und mit dem Meer überhaupt thematisiert. In einer 3D-Modellierung der unerfüllten Kindheitsträume ihrer Mutter schuf die Künstlerin einen aus rosa Kunststoff gedruckten Raum, um den mütterlichen Traum in ihrem Kunstwerk Wirklichkeit werden zu lassen („A Pink Room of Her Own“, 2020).
Selmans Erfahrungen als Frau und als Überlebende im Allgemeinen verflechten sich zudem mit weiteren Mitgliedern ihrer Familie – mit ihrem Vater, ihrem Bruder und ihren Cousins, die zu ihrem Ausdruck und Erfolg beitragen.
Aller Anfang liegt im Zuhören
Unter dem Titel „Flowers of Life“ präsentiert die aktuelle Ausstellung in der SCHIRN Selma Selmans vielschichtiges Werk und ihre zunehmende Sichtbarkeit als Rom*nja-Künstlerin. An den von ihr geschaffenen Zeichnungen, Videoarbeiten, Installationen und Live-Performances können wir die in der Kunst vorherrschende Tendenz zur Dekolonialität ablesen, die darauf basiert, dass jede Auseinandersetzung mit Minderheiten und Kolonisierten mit dem Zuhören beginnen muss. Viele westliche Interventionen stellen sich Akte der Befreiung und Freiheit lediglich als eine genaue Spiegelung dessen vor, was sie bereits kennen. Wenn wir jedoch zuhören, so erkennen wir, dass zahlreiche aufständische Bewegungen tatsächlich das Ziel verfolgen, Zugang zum Raum zu erhalten und verschiedene Strategien zu entwickeln, die keine grundlegende Ablehnung von Staatlichkeit verfolgen, sondern eine bessere Form bürger*innenschaftlicher Teilhabe. So kämpfen viele um Zugang zur regulären Infrastruktur, versuchen, Sichtbarkeit zu erlangen, oder schließen sich Bewegungen an, die über alternative Formen nationaler Staatlichkeit nachdenken oder auch über ein Territorium, das sie als ihr eigenes bezeichnen können.
Sie ist „die gefährlichste Frau der Welt“ (nach Selbstaussage der Künstlerin im Jahr 2020), zugleich aber eine Frau von berührender Verletzlichkeit und mit dem brennenden Wunsch, das in jeder Seele vorhandene Gerechtigkeitsempfinden anzusprechen. Sie lädt uns alle ein, einander zuzuhören und sich miteinander zu verbinden.