SELMA SELMANS Kunst dreht sich oft um Recycling. Damit steht sie in einer langen Tradition künstlerischer Transformation.

Wer Selma Selmans Arbeit zum ersten Mal auf der Documenta Fifteen begegnet ist, weiß, dass die 1991 geborene Künstlerin auf Autoteilen malt, genauer auf Mercedes- und BMW-Motorhauben. Sie könne gar nicht mehr auf Leinwand malen, sagte sie in einem Interview mit dem Kurator Hans Ulrich Obrist. „Früher“, so Selman, „habe ich auf Leinwand gemalt.“ Bevor sie in Banja Luka in Bosnien Herzegowina und an der US-Ostküste Kunst studierte, agierte ihr Vater, der eigentlich Schrotthändler ist, als ihr Agent, und er verkaufte die Bilder, die sie unermüdlich malte. Nie behielt er ein Bild länger als ein paar Tage. „Er ist eigentlich ein Katalysator für meine Ideen“, fährt die Künstlerin fort, „weil wir zu Hause auf unserem Schrottplatz zusammengearbeitet haben.“

Selma Selman, Painting on metal – Mercedes-Benz, 2023, image via acbgaleria.hu

Sie begann, das Material zu verwenden, auf dem das Geschäft ihrer Familie aufbaut. „In meinem Dorf“, sagt sie dann noch, „ist das Symbol für Erfolg ein Mercedes-Benz. (…) Aber gleichzeitig fahre ich nach Deutschland, wo ich ihn zerstöre, und ich benutze die Teile als Malgrund.“ Dabei krachen verschiedene Vorstellungen von Wert zusammen, einmal der rein symbolische Wert des Wagens, der Wohlstand verheißt, dann der Materialwert und schließlich der schwer bestimmbare Wert als Kunst.

Futurist*innen des 21. Jahrhunderts

Es gibt viel zu viel von allem in der Welt, und doch ist es nicht genug. Zu wenig trinkbares Wasser, zu wenig saubere Luft, zu viel Abfall. Der ist ein Problem, so sehr, dass er weltweit verschoben wird, oft entlang alter kolonialer Machtlinien. Elektroschrott landet auf toxischen Deponien in Afrika, daraus werden unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen Rohstoffe gewonnen. Weltweit betrachtet ist Recycling – das, was der Globale Norden als Grundlage ökologischen Wirtschaftens betrachtet – eigentlich ein ziemlich schmutziges Geschäft. Abfall wird nicht weniger, aber er wird weniger sichtbar. Das Zuviel von allem wird verdrängt, und alte Machtgefälle zwischen Zentrum und Rändern wiederholen sich. Seit über 100 Jahren, sagte Selman einmal, haben Rom*nja Schrotthandel betrieben, „um als unterdrückte Minderheit in der westlichen Moderne zu überleben.“ Daher kommt das Wissen um Haltbarkeit und Wiederverwendbarkeit von Materialien: „Ich glaube, dass im 21. Jahrhundert die Rom*nja die führenden sozialen, ökologischen und technologischen Futurist*innen des Planeten sind.“

Selma Selman, painting on metal, 2020/21, image via acbgaleria.hu

Selma Selman. Flowers of Life, Detailansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

Für die Performance „Mercedes Matrix“ von 2019/2020 ließ die Künstlerin ihren Vater und weitere Verwandte eine E-Klasse zerlegen, bis nur noch Chassis und Motorblock übrig sind. Hier arbeitete sie zum ersten Mal mit ihren Verwandten zusammen. Die Teile können wiederverwendet werden, und vielleicht steckt in dieser Arbeit ein Paradox wie das vom Schiff des Theseus: Was bleibt vom Mercedes übrig, wenn alle Teile abgebaut, verkauft oder als Rohmaterial für Kunst benutzt wurden?

Selma Selman, Mercedes Matrix, 2019, Kampnagel Hamburg, Image via mrezni-muzej.mg-lj.si

Re- und upcyceln, Umwandeln und Wiederverwenden sind alte Kulturtechniken, wichtig gerade in unserer Gegenwart, in der wir mit gleichzeitiger Überfülle und Knappheit umgehen müssen. Dabei sind diese Techniken auch schon lange künstlerische Avantgardepraktiken. Vielleicht stand am Anfang die Idee, Müll als Material zu benutzen. Wahrscheinlich der radikalste dabei, aber sicher der erste, war der Pionier der Konzeptkunst, Marcel Duchamp, der seine Flohmarktfunde zu Readymades erklärte.

Entzauberung und Transformation der Arbeit

1969 prägte Mierle Laderman Ukeles den Begriff „Maintenance Art“, und als junge Mutter erklärte sie die Tätigkeiten zu Kunst, die sie ohnehin verrichten musste. Die New Yorkerin weitete diesen Gedanken aus und schrubbte Museumstreppen. Sie befasste sich mit der Arbeit, die nötig ist, Großstädte sauber zu halten, später wurde sie Residency-Künstlerin des New York City Department of Sanitation. Ihre Praxis entstand während der zweiten Welle des Feminismus, die darauf bedacht war, unsichtbare Arten von Arbeit sichtbar zu machen – beispielsweise wurde die Bewegung „Wages for Housework“ 1972 von einer Aktivistinnengruppe um Silvia Federici initiiert. Vielleicht ist also der Begriff Arbeit ganz wichtig, wenn wir über Recycling und Kunst sprechen? Während Duchamps Readymades noch ausgestellte Arbeitsverweigerung waren, und sie alte Vorstellungen von Kunst aufmischen sollten, machten Künstler*innen wie Laderman Ukeles Arbeit selbst zum Gegenstand. Künstlerische – und oft männlich kodierte – Arbeit wurde damit ein bisschen entzaubert.

Mierle Laderman Ukeles, Washing/ Tracks/ Maintenance Outside, 1973, Part of the Maintenance  Art Performances series, Image via thecollector.com

A Wages for Housework march, 1977, Schlesinger Library, Radcliffe Institute / Bettye Lane, image via thenation.com

Auch Selma Selman geht es um Arbeit, und sie eröffnet ihre fortlaufende Performance „Motherboards“ (2023), indem sie Rudyard Kiplings „The Secret of the Machines“ (1911) vorträgt: „We were taken from the ore-bed (orbed) and the mine,/We werde melted in the furnace (frnas) and the pit“. Im Text verschmelzen Arbeiter*innen und Maschine, und das Verschmelzen von Metallen steht für industrielle Arbeit ein. Währenddessen bearbeiten Selmans Vater und andere Performende Elektroschrott (das, was normalerweise weit außerhalb Europas entsorgt wird). Als die Arbeit im Berliner Gropius Bau uraufgeführt wurde, spielten eine Cellistin und ein DJ Musik, die sich wiederum auf die Klänge der Arbeit bezog – aber hier geschieht noch etwas anderes:. Selman extrahiert Gold, ein Material, das in ihrer Praxis immer wieder auftaucht, aus dem Abfall. Später wird sie daraus einen Nagel gießen. Für eine weitere Performance löst sie Platin aus Autokatalysatoren. Kiplings Verse erinnern an das Industriezeitalter, und bei der Performance steht Arbeit im Zentrum, wie eine Miniaturvariante von Extraktion.

Selma Selman, Motherboards, 2023, Performance, Krass Kultur Crash Festival, Hamburg. Courtesy: the artist; Foto: Mario Ilić, Image via krass-festival.de

Selma Selman, Motherboards, Performance 2023, KRASS Kultur Crash Festival, Hamburg. Foto: Mario Ilić, image via berlinerfestspiele.de

Selma Selman, Dirt 0, 2021, Installationsansicht Art Entcounters Foundation Timișoara, image via artsy.net

Würde man eine Kunstgeschichte des Recyclings schreiben, dann müsste das auch eine Geschichte der Arbeit sein. Oder noch genauer, eine Geschichte, die davon erzählt, wie neue Vorstellungen von künstlerischer Arbeit die alten ablösen. Es gibt übrigens doch noch ein Werk auf Leinwand von Selman, „Dirt 0“, von 2021, das auch ein Readymade ist. Denn es handelt sich dabei um ein großes Tuch, in dem ihr Vater Autoteile transportierte, bloß im White Cube wandelt es sich in eine abstrakte, vielleicht gestische Malerei. Selmans Arbeit kreist um Transformation – Altmetall zu Gold – und darum, wie man einst stigmatisierte Arbeit – das Umgehen mit Resten, dem Zuviel in der Welt – zu neuer Würde verhilft. Aber das geht nicht ohne künstlerische Arbeit, eine weitere Verwandlung.

SELMA SELMAN. FLOWERS OF LIFE

20. JUNI – 15. SEPTEM­BER 2024

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