Poetisch, konfrontativ, überraschend: Die SCHIRN präsentiert vom 20. Juni bis zum 15. September 2024 zwei neue Werke der Künstlerin SELMA SELMAN in einer großen Soloschau. Aus diesen fünf Gründen lohnt sich der Besuch.

1. Neue Werke der „gefährlichsten Frau der Welt“

Erst vor wenigen Jahren ist Selma Selman selbstbewusst und kraftvoll in die internationale Kunstwelt vorgedrungen und bezeichnet sich selbst als „gefährlichste Frau der Welt“. Zusammen mit ihrer Familie schlachtet sie vor Publikum einstige Statussymbole wie Mercedes-Benz-Autos aus, um an die wenigen noch verwendbaren Edelmetalle zu gelangen. Laut und eindringlich sind in der Regel auch die sprachlichen Performances der Künstlerin mit Rom*nja-Hintergrund, in denen Wut und der Drang nach einer Umkehrung der Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen. Selmans Kunst behandelt in unterschiedlichen Medien eindrucksvoll Erfahrungen mit Diskriminierung, Gewalt, Sexismus und dem Patriarchat. Ihr vielseitiges Werk umfasst Performances, Skulpturen, Malereien auf Autoteilen und Altmetall, Zeichnungen und Video.

In der SCHIRN präsentiert die Künstlerin Grafiken, kleine skulpturale Arbeiten aus Edelmetallen und zwei Performances, die zentrale Aspekte ihres Œuvres aufgreifen, sowie zwei neu entwickelte Werke: Die Installation „Flowers of Life“ (2024) aus Mehrschalengreifern verweist auf die Lebensgrundlage ihrer Familie, die auf dem Sammeln und dem Weiterverkauf von Metallschrott fußt. Die Videoarbeit „Crossing the Blue Bridge“ (2024) basiert auf den Erinnerungen ihrer Mutter an Erlebnisse in ihrer Heimatstadt Bihać während des Bosnienkrieges (1992–1995).

Foto: Selma Selman’s Archive, Image via dreamidreamachine.com

Selma Selman, Mercedes Matrix, 2019, Performance, © Selma Selman, Foto: Mario Ilic, Image via dreamidreamachine.com

2. Riesige Maschinen werden zu Blumen

Im Zentrum der Ausstellung steht die eigens neu konzipierte und titelgebende Arbeit „Flowers of Life“ (2024). Die raumeinnehmende Installation besteht aus vier gebrauchten Mehrschalengreifern, wie sie auf Baustellen oder Schrottplätzen zum Einsatz kommen. Selma Selmans Aneignung verwandelt die massiven Maschinen in blumenartige kinetische Skulpturen, deren Blüten sich mithilfe eines Motors langsam öffnen und schließen. Im Inneren enthüllen sie Malereien der Künstlerin. Mit „Flowers of Life“ knüpft Selman an ihre bekannten „Paintings on Metal“ (seit 2014) an, Arbeiten mit Altmetall, die zwischen Malerei und Skulptur changieren und auf den Schrotthandel ihrer Familie verweisen. Die sinnlich-florale Interpretation von „Flowers of Life“ spielt mit der Umkehrung von männlichen und weiblichen Zuschreibungen und offenbart zugleich die Frauen als zentrale Trägerinnen der Gemeinschaft. Mit starker und wehrhafter Formensprache deutet Selman stigmatisierende Stereotype um, die die patriarchale Mehrheitsgesellschaft rund um die Kultur der Rom*nja und die Rolle der Frauen konstruiert hat.

Selma Selman, Motherboards (The Wedding), 2023, acrylic on scrap metal. Courtesy: the artist and Rijksakademie; photograph: Sander van Wettum, Image via frieze.com

3. Sichtbarkeit und Emanzipation als Frau und Romni

Selmans Herkunft und die Einbeziehung ihrer Familie in ihre künstlerische Praxis sind integraler Bestandteil ihres Werkes. Insbesondere die intensive Zusammenarbeit mit ihrer Mutter dreht sich um autobiografische Erfahrungen, Sichtbarkeit und Emanzipation als Frau und Romni und hat sich bereits in zahlreichen Werken niedergeschlagen. Die SCHIRN präsentiert die neue filmische Arbeit „Crossing the Blue Bridge“ in einer Installation auf zwei Leinwänden. Sie handelt vom Fortwirken historischer Traumata, von Fürsorge, Mut und Widerständigkeit. Selman schlüpft in die Rolle ihrer Mutter und reinszeniert deren Erinnerung.

Der Film geht von Erlebnissen ihrer Mutter im Bosnienkrieg aus. An einem Tag der Waffenruhe im Jahr 1994 ging die Mutter mit Selmans Schwester in die Stadt, um Lebensmittel zu besorgen und musste auf dem Heimweg die mit Leichen und Tierkadavern übersäte Alija-Izetbegović-Brücke in Bihać überqueren. Beim Versuch die Augen des Kindes zu verdecken und zugleich den schweren Korb mit Lebensmittel zu tragen, wehte der starke Wind ihr die Haare ins Gesicht und verdeckte die Sicht. Selman wiederholt dieses Motiv in ihrer Inszenierung. In einem eindringlich vorgetragenen Text auf Englisch, Bosnisch und Romanes verbindet sie es u.a. mit Figuren der griechischen Mythologie und stilisiert ihre Mutter zu einer Heldin, die mitverantwortlich ist, dass sich ihre Tochter heute unter widrigsten Bedingungen zu behaupten weiß. Die blaue Brücke wird so auch zu einem Sinnbild für Selmans künstlerischen Aktivismus, mit dem sie neue Wege erschließt.

Selma Selman, Crossing the Blue Bridge, 2024, Filmstill, Courtesy of the artist
4. Ein intersektionaler Blick ins Ich

„Superpositional Intersectionalism – Sleeping Guards“ (2023), eine Serie von 16 Buntstiftzeichnungen auf rundem Papier, kreist um Selmans Selbstbildnis. Die Zeichnungen zeigen intime Betrachtungen von Frauenfiguren, deren Gesichter und Körper sich in surreale Mischwesen mit fluiden Identitäten verwandeln, sich ausdehnen und abstrakte Formen annehmen. Das in Selmans Werk wiederkehrende Motiv des eindringlichen Blicks eines Auges taucht in diesen Bildern erneut auf und referiert auf Identität und gesellschaftliche Zuschreibungen. Selman thematisiert hier auch die Möglichkeiten und Grenzen dessen, was sie sein kann – Frau, Künstlerin, Romni, international erfolgreicher Star, Tochter, Europäerin, Muslimin. Der Titel verbindet das aus der Quantenphysik kommende Phänomen der Superposition, bei dem ein Atom sich gleichzeitig in verschiedenen Zuständen befinden kann, mit dem Begriff der Intersektionalität, der das Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungsformen beschreibt.

Selma Selman, Superpositional Intersectionalism – Sleeping Guards, 2023, Courtesy of the artist
Selma Selman, Superpositional Intersectionalism – Sleeping Guards, 2023, Courtesy of the artist
5. Live-Performances: Selma Selman in Aktion

Während der Laufzeit der Ausstellung finden zwei Live-Performances der Künstlerin statt. Selman zeigt zur Eröffnung „You Have No Idea“ (seit 2015). Die eindringliche Performance kann je nach Situation zwischen fünf Minuten und eineinhalb Stunden dauern. Mit der kontinuierlichen Wiederholung des titelgebenden Satzes adressiert sie gesellschaftliche Zuschreibungen und konfrontiert das Publikum mit unbewussten Vorannahmen über andere Menschen. Zum Book Launch des Ausstellungskatalogs in der SCHIRN performt Selman die auf ihrem Instagram-Account erscheinende Arbeit „Letters to Omer“ (seit 2021). In der sich fortsetzenden Serie von Briefen teilt die Künstlerin intime Gedanken, Wünsche und Visionen einer möglichen Zukunft mit einer fiktiven Figur namens Omer.

Selma Selman, her0, Gropius Bau (2023), © Gropius Bau, Foto: Eike Walkenhorst

SELMA SELMAN. FLOWERS OF LIFE

20. JUNI – 15. SEPTEMBER 2024

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