Wie nah kommt personalisierte Online-Werbung unserer realen Persönlichkeit? Die Journalistin Sara M. Watson beschreibt eine befremdliche Begegnung mit ihrem anderen ICH.
Sie ist zwischen 25 und 34. Oder unter 32. Sie ist ein Kind der Achtziger und Neunziger. Sie ist vermutlich verheiratet, aber sie benutzt ihr Telefon wie ein Single. Sie hat die High School abgeschlossen. Sie geht wählen, aber gehört keiner Partei an.
Sie lebt in einem Haus, das ihr seit vierzehn Jahren gehört. Oder sie lebt weit weg von ihrer Heimatstadt. Sie lebt im Ausland. Vor zwei Wochen ist sie von einer Reise zurückgekehrt.
Sie fährt einen Honda ACCORD, hat einen eigenen Lkw und will bald ein Fahrzeug kaufen. Vielleicht mag sie Wohnmobile.
In ihrer Freizeit kocht sie gerne, stickt oder repariert Autos. Sie interessiert sich für Suchmaschinenoptimierung, Cloud Computing und Ego-Shooter. Sie sieht PBS-Sendungen, Thriller und China Central Television. Sie hört Rockmusik, Rap & Hip-Hop und liest Kinderbücher. Sie steht auf Roboter und Renminbi. Sie mag Wasser, Eis, Orangen, Badeanstalten, das chinesische Neujahr, Halswirbel und die Farbe menschlicher Haut. Sie trägt Retro-Style.
Wenn Sie ihren Pass und Fingerabdruck am Flughafen von Changi einscannt, wird sie als abhängig erkannt. Ihre Bank führt sie als Hausfrau. Sie ist für Global Entry und TSA PreCheck qualifiziert.
Sie verfügt über acht Kreditlinien und besitzt goldene Kreditkarten. Sie steht auf Coupons. Vor kurzem hat sie Partyartikel, Körperpflegeprodukte für Männer und ein Kleid für große Größen erworben. Letzte Woche ist sie nur 40 094 Schritte gegangen. Sie könnte an einer medizinischen Studie zu Anorexie teilnehmen.
Sie kennt sich mit sozialen Medien, Internetsuche und Blogs aus. Sie ist Expertin für Bitcoin, Python und das Internet. Beziehungen sind ihr wichtig, sie baut schnell ein vertrautes Verhältnis auf und schätzt offene, lässige, ungezwungene Gespräche. Von Natur aus interessiert sie sich für Psychologie und zieht Innovation und Abwechslung Stabilität und Sicherheit vor. 5,2% ihrer Tweets enthalten Emojis.
Sie übt sich in Großzügigkeit und arbeitet an ihrer Selbstwertschätzung
Sie ist meine Daten-Doppelgängerin.[1]
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Ich kann Teile von ihr in den Sidebars und Bannern entdecken, in den Markenwerbungen, die sich in meine endlosen Scrolls schleichen. Sie taucht in Empfehlungen und personalisierten Ergebnissen auf – flüchtige Begegnungen, sofern sie nicht durch Screenshots eingefangen wurden.
Sie ist mein gepixeltes, automatisiertes Porträt. Sie besteht aus Fragmenten, ist eine Akkumulation, die ich im digitalen Spiegel erkenne. Sie ist ich, jetzt durch ein dunkles Glas.
Sie ist ein Abklatsch meiner zusammengeklatschten digitaler Überbleibsel. Sie ist mein Browser-Verlauf, meine Status-Updates, meine GPS-Positionen, meine Antwort auf Werbe-E-Mails, meine Kreditkartentransaktionen und meine Eintragungen im Melderegister.
Und sie besteht aus den Schlussfolgerungen und Mutmaßungen, die andere zu diesen Daten anstellen. Ich wundere mich, wo sie diese verrückten Ideen über mich herbekommt. Ich schmiede unbeweisbare Alltagstheorien, um ihr sprunghaftes Verhalten zu erklären.
Ihre befremdlich vertraulichen Eigenschaften lassen mich an mich selbst zweifeln. Ich stehe dem Unheimlichen gegenüber. Kennt sie mich überhaupt nicht oder kennt sie mich besser als ich mich selbst?
Sie ist eine künstlich intelligente Agentin.
Man kann schwer einschätzen, wie viel von ihr ich irgendwo eingeben sollte. Stellt sie ihre gesamte Geschichte dar, oder ist sie nichts weiter als eine Silhouette einiger vager demografischer Merkmale? Weiblich. 24–35. Unter dieser Postleitzahl.
Manchmal grabe ich nach ihr, auf der Suche nach mehr Details.
Sie lebt in verschiedenen Kontexten. Ich kann sie nicht verfolgen. Sie vervielfacht sich. Und doch ist sie auf verschiedene [Informations-]Silos verteilt. Sie hat ein perfektes Gedächtnis, für mich bleiben ihre Spuren aber nur flüchtig. Der Output von maschinellem Lernen, ihre Logik lässt sich nicht mehr erklären.
Sie ist Banalität, die scheinbar harmlosen Klicks und Suchen eines digitalen Alltags. Aber sie ist auf bedeutsame, konsequente Weise Ich.
Alles, was sie ausmacht, wird ganz plötzlich heikel. Sie ist mehr als nur identifizierbare Information. Sie stellt Abstraktionen von mir dar, über die Urteile gefällt werden. Ihre Gewohnheiten stehen als Signale für ansonsten geschützte Klassen. Sie ist diskriminierend und wird diskriminiert.
Da mehrere Systeme meine Bedürfnisse problemlos vorwegnehmen, steht sie für mich ein, ob ich ihr dazu die Vollmacht erteilt habe oder nicht. Sie macht es mir recht und sie zwingt mich.
Sie wird mir immer ähnlicher, ständig optimiert, fortschrittlicher, mit Gesichtserkennung, zuverlässigeren Merkmalen und fotorealistisch.
Präsentiert sie mich der Welt aus reiner Bosheit falsch?
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Ich habe heute kaum die Möglichkeit, ihr zu widersprechen und noch weniger Möglichkeiten, sie zu korrigieren. Ihr Management erfordert Geduld und Beharrlichkeit. Manchmal kann ich ihre gesammelten Erinnerungen und Interpretationen überprüfen. Ich checke, wo sie war, wem sie Zugang gewährt.
Wenn mir ihre Tricksereien zu viel werden, bewerfe ich sie mit noch mehr Daten, lege falsche Fährten. Obskurität durch Verschleierung. Aber dann wird sie für mich nutzlos.
Ab jetzt verlange ich, dass sie sich mir zeigt. Ich will nicht erst bezahlen müssen, damit ich sie sehen kann.
Sie soll aufhören, anzunehmen, was ich will, sondern mich fragen, was ich will. Ich muss ihr genug vertrauen, damit sie als meine Stellvertreterin auftreten kann, mit der Gewissheit, dass sie an meine Interessen denkt. Ich könnte sie einfach losschicken, mit einer Vollmacht an meiner statt zu handeln, anstatt alles zu verschlüsseln, damit ich sie kontrollieren kann.
[1] Details aus meinen derzeitigen Profilen in Facebook Ad Preferences, Google Ad Preferences, LinkedIn, Klout, Acxioms aboutthedata.com, Crystals proprietäre Technologie zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen usw.