Die Konturen verschwimmen im dicken Farbauftrag: Wie Richard Gerstl die Gegenständlichkeit abschafft und damit die Zeitgenossen vor den Kopf stößt.
Richard Gerstl porträtiert die Familie des Komponisten Arnold Schönberg mit farbsattem Pinsel. In klaren Farben, fahrigem Pinselstrich wühlt er in den Farbschichten, gräbt Flecken und zieht Schlieren über die Leinwand. Jedes Detail wird bis zur Entstellung verwüstet.
Die planen Farben notieren keine Schatten mehr, alle Konturen verschwimmen zur Unkenntlichkeit. Allein die Farbgebung verleiht den Figuren innerhalb des Bildes eine Position: Das blaue Kleid der Frau, die roten Schleifen in den Haaren des Mädchens und das grasgrüne Umfeld setzen die Dargestellten einerseits vom Hintergrund ab und bewirken andererseits, dass sie definiert werden.
Das Gemälde entsteht im Juli des Jahres 1908, als Richard Gerstl im Gmundner Haus seines Freundes Arnold Schönberg lebt und arbeitet. Es zeigt den Pionier der Zwölftonmusik mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Trudi und Georg. „Die Familie Schönberg“ ist eines seiner letzten Bilder. Beim Rühren in der Farbe, dem wirren Andeuten ganzer Bildpartien beweist Gerstl, dass er seiner Zeit weit voraus ist.
Heftig gesetzte Pinselhiebe
Schon während seiner Akademiezeit fällt der individuelle Stil des jungen Richard Gerstl auf. Er selbst sieht sich in einer Traditionslinie mit Künstlern wie Edvard Munch und Vincent van Gogh. Vor allem des markanten Duktus wegen erinnert sein „Selbstbildnis als Akt“ etwa an Gemälde seines niederländischen Vorbildes van Gogh: Gerstl durchkreuzt die helle Rahmung seines schlanken Körpers mit dicken, dunkelblauen Linien, die so heftig gesetzt sind wie Pinselhiebe. Der mittig positionierte Männerkörper scheint im diffusen Licht der Komposition hell auf.
Fast übersieht man, dass das dunkle Blau des Hintergrundes – der gut zwei Drittel des Bildes einnimmt – gestisch durchgearbeitet ist. Ein erster Schritt in Richtung Abstraktion. Im Jahr darauf entfernt sich Gerstl beim Porträt „Die Schwestern Karoline und Pauline Fey“ noch weiter von den akademischen Konventionen: Schnell und freihändig werden die beiden sitzenden Frauen skizziert, ohne Studie und abermals vor leerem, verwaschenem Hintergrund.
In Farbe aufgelöste Körper
Als die Familie von Schönberg ihm 1908 Modell sitzt, verwendet Gerstl schon einen meterlangen Pinsel. Ihm geht es nicht mehr um ein realistisches Abbild, sondern um Ausdrucksstärke. Der Pinselstrich wird breiter, der Farbauftrag dicker und die Farbe drückt er aus der Tube auf die Leinwand. Manchmal mischt er die Töne beim Malen auf dem Gemälde an. In groben Linien und verschlungenen Wirbeln ergibt sich aus den Bewegungen beim Malen eine plastische Struktur.
Das reliefartige Gebilde aus vereinzelten Tupfen und einander überlagernden Farbsträhnen und Schlieren ist abstrakt. Gesichtszüge und Details der Kleidung zerfließen in den pastosen Formationen, Kleidung, Haut oder Hintergrund lassen sich nicht mehr unterscheiden. Gerstls ungestümer Malgestus überfährt das Gezeigte, einzig die farbigen Akzente geben dem Betrachter auf der einheitlichen Faktur eine Orientierung.
Bis zur vollständigen Auflösung
Das „Gruppenbildnis mit Schönberg“ und „Akt im Garten“ lässt erahnen, dass Gerstls Pinselführung zur Auflösung der Figuren führen wird und sie bald vollständig von seiner gestischen Malerei verschluckt werden. "Formverwilderung" urteilte der Zeitgeschmack, das Publikum empfand Gerstls Malerei als hässlich. Erst fünfzig Jahre später sollten Maler in New York an dieser Stelle weitermachen und somit den Abstrakten Expressionismus entwickeln. Denkt man beispielsweise an Werke von Jackson Pollock und Willem de Kooning findet man Spuren der eingefrorenen Bewegungen, des rasenden Pinselstrichs und der zerstörerischen Gestik jener Gemälde wieder, die der Künstler 1908 vollendete.
Wenige Monate später entdeckte Arnold Schönberg, dass sein Freund Richard Gerstl ein Verhältnis mit seiner Frau Mathilde hatte. Diese Affäre zerstörte das enge Verhältnis des Malers und des Komponisten. Gerstl blieb isoliert zurück. Kurz darauf beging er Selbstmord. Zurück bleibt ein überschaubares Œvre von nicht mehr als achtzig Bildern. Mit ihrem ganz eigenen, expressiven Stil stehen sie für eine wegweisende Malerei, die bis in die zeitgenössische Kunst nachklingt.