Als 1900 Sigmund Freuds „Die Traumdeutung“ erscheint, ist Richard Gerstl erst 17 Jahre alt. Er ist einer ersten, der die Schrift sofort erwirbt.
Zur Jahrhundertwende galt Wien, anders als Berlin oder Paris, wo sich in Folge der Industrialisierung Künstler realistischeren Darstellungsformen und Alltagsmotiven zuwandten, noch als konservativ. Und auch mit der Bildung der Wiener Secession und Vertretern wie Gustav Klimt wurde sich in der Kunst weiterhin mehr mit Symbolik, Mythen und Allegorien als mit gesellschaftlichen Problemstellungen auseinandergesetzt.
Gerstl hingegen interessierte die kritische Reflexion und die Ergründung des (eigenen) Subjekts: Dissonanz statt reine Ästhetik, Instinkt statt Konformität. Mit großem Interesse verfolgte er theoretische und philosophische Diskurse, befasste sich mit Musikwissenschaft und Theater. Er las Autoren wie August Strindberg, Frank Wedekind und Arthur Schnitzler, die Tabuthemen wie Sexualität und Tod behandelten, Gesellschaftskritik übten und statt ausschweifender Formulierungen sich oftmals einer knappen Umgangssprache bedienten, um ihre Alltagsbeobachtungen zu artikulieren. Und er las Freud, der mit seiner Traumtheorie nicht nur die Grundlagen der Psychoanalyse entwickelte, sondern auch die westliche Kultur des 20. Jahrhundert und die ihr zugrundeliegende Vorstellung des Menschen nachhaltig prägte.
Woraus entstehen Träume?
Die Erstausgabe von „Die Traumdeutung“ kaufte Gerstl mit hoher Wahrscheinlichkeit in Hugo Hellers Buchhandlung. Denn der umtriebige Journalist, Verleger und Konzertdirektor war ein enger Freund und vor allem Bewunderer Sigmund Freuds. In „Die Traumdeutung“ entwickelt Freud ein Verfahren zur Deutung von Träumen und begreift diese als „sinnvolles psychisches Gebilde“: Aus welchem Material entstehen Träume? Wie werden sie ausgelöst? Und warum vergessen wir das Geträumte nach dem Erwachen?
Freud argumentiert, dass die Erklärung von Traumbildern unabdingbar ist für das Verständnis psychischer Störungen wie Phobien, Zwangs- und Wahnideen und therapeutischer Behandlungsformen. Zu diesem Zweck untersuchte er 200 Träume von Patienten, darunter auch die eigenen. „Das war peinlich, aber unvermeidlich“ schreibt Freud hierzu in der Vorbemerkung des Buches. „Die Traumdeutung“ wurde mehrfach erweitert, insgesamt acht überarbeitete Auflagen sind erschienen. Die wichtigste Erkenntnis bleibt, dass auch das unbewusste Denken einer Logik unterliegt und der Traum, so Freud, „ein vollwichtiger psychischer Akt“ ist, dessen „Triebkraft ein zu erfüllender Wunsch“ darstellt, dass sich im Traum also unterdrückte oder verdrängte Wünsche manifestieren.
Ein vielschichtiges Oeuvre
Im Oktober 1908 richtet Richard Gerstl sich ein neues Atelier ein, vis-à-vis Sigmund Freuds Sprechzimmer in der Wiener Liechtensteinstraße. Dort malt er eines seiner letzten Werke, „Sitzender Frauenakt“, das die nackte Mathilde Schönberg zeigt, und dort nimmt er sich nur einen Monat später das Leben. Er hinterlässt ein übersichtliches, aber durchaus vielschichtiges Œuvre, in dem vor allem die Portraits, die er von seinen Eltern, seiner Geliebten oder von Freunden fertigte, herausstechen.
Auch wenn die Bilder den Portraitierten oft nicht gefielen – sie zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Subjekten und einem sensiblen, aufmerksamen Blick des Malers. Und auch in den vielen Selbstdarstellungen, die ihn manisch lachend, mit entrücktem Gesichtsausdruck oder als Akt zeigen, erforscht der Künstler seinen Körper, seine Sexualität, seine Rolle als Außenseiter und die Bewegungen der eigenen Gefühlswelt.
Die Menschen durchleuchten
Mit „Die Traumdeutung“ legt Freud den Grundstein für die Erörterung des Ödipus-Komplex, der Kastrationsangst oder der Urszenenphantasie, er erforscht unterdrücktes, sexuelles Begehren, die Neurose, das Trauma und den Todestrieb. Kurzum: er studiert das Innerste des Menschen und dessen Sein in der modernen Welt. Und so ist Gerstls intensives Interesse an Freud nicht verwunderlich. Denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte in Wien, so Ingrid Pfeiffer in ihrem Beitrag zum Katalog der Ausstellung, ein Unbehagen, eine kollektive Praxis des Verdrängens, die Freud als pathologisch bewertete. Gerstl wiederum „scheint wie ein Seismograf die unterschwelligen Spannungen seiner Epoche verarbeitet zu haben“ und war somit in dem dringenden Bestreben, die Dinge und die Menschen zu durchleuchten, vielen seiner Zeitgenossen voraus.