Er kam aus gutem Haus, hatte keine materiellen Sorgen und war auf Krawall gebürstet: Der Stil von Richard Gerstl war so zukunftsweisend und fremd, dass seine Werke zu Lebzeiten nie ausgestellt wurden.
Die Wiener Akademie der Bildenden Künste ist die älteste Kunsthochschule Mitteleuropas. Sie wurde 1692 gegründet und bezog 1877 ihren heutigen Sitz in einem eigens dafür errichteten, prächtigen Palais am Schillerplatz. Um 1900, nachdem die beiden Künstlervereinigungen Secession und Hagenbund gegründet wurden, hatte sie jedoch nicht mehr die unangefochtene Bedeutung früherer Tage. Am Schillerplatz war Richard Gerstl, mit Unterbrechungen, ab dem Wintersemester 1898/99 als Student eingeschrieben. Sein Verhältnis zu seinen Lehrern war schwierig und meist auch entmutigend, er selbst war weitgehend isoliert.
Gerstl kam aus großbürgerlichem Hause. Er liebte apodiktische Urteile und – er kannte keine Geldsorgen –, konnte sie sich auch leisten. Schon in seiner Schulzeit am renommierten Piarristengymnasium galt er als schwieriger Schüler. Sein Vater duldete Gerstls künstlerische Ambitionen, seine Mutter unterstützte sie, mit seinem Bruder Alois, der später zum Chronisten des viel zu kurzen Lebens Richards werden sollte, verstand er sich gut.
Griepenkerl und Adolf Hitler
Bereits als Schüler wurde Gerstl vom Akademiestudenten Otto Frey im Zeichnen unterrichtet. Nach dem vierten Jahr am Gymnasium besuchte er zwei Monate lang die Zeichenschule „Aula“, um sich auf die Aufnahmeprüfung an der Wiener Kunstakademie vorzubereiten. Er besteht, und der Fünfzehnjährige besucht ab Oktober 1898 die „Allgemeine Malerschule“ von Christian Griepenkerl (1839-1916).
Griepenkerl war ein deutsch-österreichischer Maler, der sich auf monumentale Historienmalerei und später auch auf Porträtmalerei spezialisiert hatte. Er war wohl der reaktionärste Lehrer, der damals an der Akademie unterrichtete. Um dessen „Grundschule“ war aber nicht herumzukommen und so zählten zu seinen Schülern auch Carl Moll und Egon Schiele. Christian Griepenkerls künstlerisches Oeuvre gilt heute als unbedeutend, seine fatale Fehlentscheidung hingegen, 1908 die Bewerbung Adolf Hitlers auf das Studium an der Akademie abzulehnen, sollte ihm posthum zur Unsterblichkeit verhelfen.
Endlich Fortschritt!
Für Gerstl war der Unterricht bei Griepenkerl vermutlich unergiebig, und das Verhältnis zu seinem Professor von Differenzen geprägt: „Sie hat der Teufel an die Akademie geschickt“, wirft Griepenkerl seinem Schüler eines Tages entgegen, an einem anderen kanzelt er ihn mit den Worten ab: „So wia Si moln, brunz i in Schnee!“ Vor Griepenkerl floh der Akademie-Schüler Gerstl in den Sommern 1900 und 1901 nach dem heute im rumänischen Siebenbürgen gelegenen Nagybánya. Hier besuchte er die bei der Jugend beliebte freie Malerschule von Simon Hollósy. Gerstl erlebte dort endlich einen fortschrittlichen Unterricht und auch die Lehrinhalte (Freilichtmalerei, Postimpressionismus) widersprachen diametral dem steifen, schematisierten Akademismus Griepenkerls.
Zu dieser Zeit wurde Gerstl in den Kreis um Arnold Schönberg und Alexander von Zemlinsky aufgenommen und fand bei diesen fortschrittlichen Musikern Seinesgleichen. Hier traf er endlich auf kreative Menschen, die Neuem gegenüber aufgeschlossen waren und bereit waren, völlig neue Wege zu gehen, die klassischen Vorbilder über Bord zu werfen.
Rückschritt durch Anpassung
An der Akademie hat Gerstl einen einzigen Freund, Victor Hammer, mit dem er sich Siezt. Bei Victor Hammer sah Heinrich Lefler (1863-1919) Gerstls großes Doppelbildnis der Schwestern Fey, das maltechnisch von Manet, kompositorisch von Munch beeinflusst ist. Der Professor ist so angetan, dass er Gerstl in seine „Systematisierte Spezialschule für Landschaftsmalerei“ aufnimmt, und dieser so im Sommersemester 1906 sein Studium wieder aufnehmen kann. Heinrich Lefler galt als fortschrittlicher Lehrer. Er war Sohn des Malers Franz Lefler (1831-1898), Schüler von Griepenkerl und zählt zu den zu den bedeutendsten Vertretern des Jugendstils. Leflers Klasse galt der „Heranbildung zu selbständiger Tätigkeit“. Bei Lefler schwenkte Gerstl zunächst auf einen hellmalerischen, pointilistischen Stil ein, was im Vergleich zum Doppelbildnis der Schwestern Fey ein Rückschritt war, an der Akademie aber als fortschrittlich angesehen wurde. Vielleicht wollte er sich so an seine Klasse anpassen und den Erwartungen seines Lehrers und seiner Familie entgegenkommen.
Das Hagenbund-Mitglied Lefler schätzte Gerstl so weit, dass er nicht nur dessen Bedingung stattgab, an der Akademie ein Atelier zur alleinigen Verfügung zugeteilt zu bekommen, sondern sich von seinem Studenten auch über Literatur und Sonstiges informieren ließ. Während Gerstls Malweise immer wilder wird, gestaltet sich das anfänglich freundschaftliche Verhältnis von Schüler und Lehrer, ja von Student und Akademie mit der Zeit immer schwieriger. Zunächst zerschlagen sich drei Ausstellungsmöglichkeiten: wohl aus Sorge vor einem Skandal versagt Lefler seinem Schüler die Teilnahme an einer Ausstellung im Hagenbund; dann zieht der „Ansorge-Verein“ sein Angebot für eine Ausstellung zurück; und schließlich ist es Gerstl selbst, der nicht mehr wie vorgesehen in der renommierten, von Carl Moll geleiteten Galerie Miethke ausstellen möchte, weil seine Werke dort neben denen Gustav Klimts hängen sollen, dessen Werk er verachtet. Diese Radikalität versteht keiner, aber Gerstl lässt sich von niemandem etwas sagen.
Wiederstand gegen die Autorität
Im Herbst 1907 entzieht Lefler seinem Schüler das Privileg eines eigenen Ateliers. Als Gerstl schließlich davon erfährt, dass Heinrich Lefler zusammen mit Josef Urban, Oskar Kokoschka und anderen Künstlern den gesellschaftlich durchaus ehrenvollen Auftrag zur künstlerischen Ausgestaltung des Huldigungsfestzugs zum sechzigsten Thronjubiläum Kaiser Franz Joseph I. erhielt, macht er seinem Professor den ruppigen Vorwurf, ein Künstler der etwas auf sich halte, dürfe sich mit dergleichen nicht befassen.
Am 19. Juli 1908, auf den Tag genau eine Woche nach dem kaiserlichen Jubiläum findet die Eröffnung einer Gruppenausstellung der Klasse Heinrich Leflers statt. Der Lehrer schließt seinen rebellischen Schüler ohne dessen Wissen von der Ausstellung aus. Entrüstet schreibt Gerstl, der bereits mit dem Schönberg-Kreis nach Traunsee verreist war, nachdem er von dem Ausschluss erfährt, eine Protestnote an das zuständige Ministerium. Dieser Beschwerdebrief an das „Ministerium für Cultus und Unterricht“ ist in seinem Widerstand gegen die Autorität eines Professors, derartig seiner Zeit voraus, dass wir aus ihm eine kurze Stelle zitieren wollen: „[…] umso mehr hätte ich nicht nur das Recht gehabt, daß meine Bilder ausgestellt werden, als Hr Prof. Lefler einem meiner Collegen gegenüber folgende Äußerung über mich machte: ›Er (nämlich ich) geht ganz neue Wege, man kann ihm schwer folgen, aber tun kann ich für ihn nichts‹. Durch das Nichtausstellen meiner Bilder ohne mein Wissen u. meine Zustimmung, war ich von der Concurrenz um den Specialschulpreis ausgeschlossen, der Herrn Ignaz Schönfeld zuerkannt wurde; Herr Prof. Lefler hat diesen Schüler mir gegenüber wiederholt u. zum letzten Mal vor 4 Wochen für vollkommen talentlos erklärt. […]“
Anstatt die Beschwerde zu beantworten, leitet das Ministerium den Brief an den Rektor der Akademie, der es seinerseits wiederum unbeantwortet ad acta legen lässt. Alois Gerstl erinnerte sich Jahre später, sein Bruder sei in der Folge aus der Akademie hinausgeworfen worden. In der im Archiv der Akademie verwahrten Akte Gerstl findet sich allerdings kein solcher Eintrag. So oder so hätte dies Gerstl, der nach der Aufdeckung seiner Liebesbeziehung zu Mathilde Schönberg in eine, wie wir wissen, tödlich endenden Krise geriet, wohl schwerlich interessiert.
Er (nämlich ich) geht ganz neue Wege, man kann ihm schwer folgen, aber tun kann ich für ihn nichts.