Mit seinen Bildern hatte Richard Gerstl zu Lebzeiten keinen Erfolg, seine ungewöhnliche Art, zu malen wurde als abstoßend und hässlich empfunden. Doch auch Hässlichkeit besitzt eine gewisse Ästhetik.
Es ist eine allgemeine Erscheinung in unsrer Natur, daß uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt, daß wir uns von Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen [...].
Und so verwundert es nicht, dass die Werke Richard Gerstls eine Faszination ausüben, der man sich als Betrachter nur schwer entziehen kann – wissen wir doch, dass man den Künstler 1908 mit einem Messer in der Brust erhängt in seinem Atelier auffand. Ein wahrhaft hässlicher Tod, der einer gewissen scheinbar inszenierten Ästhetik nicht entbehrt.
Hässlich ist subjektiv – oder?
Die Ästhetik des Hässlichen – ein Thema, welches Künstler und Schriftsteller seit Jahrhunderten immer wieder fasziniert und inspiriert hat, als radikaler Gegensatz zu allem Schönen. Doch während Schönheit mit Regelmäßigkeit von Künstlern und Philosophen – dabei über die Epochen und Kulturkreise hinaus durchaus verschieden – definiert wurde, muss man zwecks einer Begriffserklärung von Hässlichkeit auf die Darstellungen und Beschreibung in Kunst und Literatur zurückgreifen.
Was uns hässlich erscheint, ist höchst subjektiv und gleichzeitig gibt es doch eine kollektive Übereinstimmung: ein unproportionaler oder verformter Körperbau, ein schielender Blick, Fratzen, Verfall und Tod wurden zu allen Zeiten – zumindest im europäischen Kulturkreis – mit Bezeichnungen wie abstoßend, verwerflich, grässlich und ekelhaft beschrieben, schreibt Umberto Eco in „Die Geschichte der Häßlichkeit“.
Unser geschulter Blick
Richard Gerstl mit dem Begriff des Hässlichen zusammenzubringen, mag auf den ersten Blick kontrovers erscheinen – doch muss dabei beachtet werden, dass unsere Augen durch die verschiedenen Kunststile des 20. Jahrhunderts, wie Expressionismus, Futurismus oder Surrealismus, auf eine andere Art und Weise geschult sind als die Augen der Menschen zur Jahrhundertwende.
Zu Zeiten der Wiener Secession, die sich die künstlerische Ästhetisierung aller Lebensbereiche auf die Fahnen geschrieben hatte, eckte Gerstl mit seinen dicken und schnodderig gezogenen Pinselstrichen unweigerlich an. Er war Mitglied der Wiener Akademie der Künste, doch konnte er sich mit den Theorien des dort gelehrten und in Wien hochgelobten Malstils eines Gustav Klimt und seiner allegorischen Frauendarstellungen nicht anfreunden, wollte anders malen.
Ihn reizte vor allem das Porträt, allem Voran das Selbstporträt, mit dem er zu einer künstlerisch völlig neuen Ausdrucksweise finden wollte. Belesen wie er war ist es wahrscheinlich, dass Gerstl den Text „Die Ästhetik des Häßlichen“ kannte, die Karl Rosenkranz 1853 verfasst hatte. Dieser unterscheidet darin zwischen verschiedenen Arten der Hässlichkeit und widmet sich auch dem „Kunsthässlichen“:
Ist nun das Hervorbringen des Schönen Aufgabe der Kunst, muß es da nicht als der größte Widerspruch erscheinen, wenn wir sehen, daß die Kunst auch das Häßliche hervorbringt? Wollen wir hierauf antworten, daß die Kunst allerdings das Häßliche hervorbringe, jedoch als ein Schönes, so würden wir offenbar zu dem erstbemerkten Widerspruch nur einen zweiten und, wie es scheint, größern hinzufügen [...].
Das Hässliche dürfe in der Kunst nicht fehlen, da sie alle Facetten des Lebens zeigen müsse, heißt es weiter, doch es könne niemals allein Gegenstand sein: Man müsse ihm immer etwas schönes zur Seite stellen. Eine These, der Gerstl, so er sie denn kannte, in seinen Werken widersprach. Vor allem in seinen Selbstportraits zeigt der Künstler sich und seinen Körper mit schonungsloser Offenheit, mit schielenden Augen, hängenden Schultern und einem scheinbar direkten Einblick in sein Seelenleben.
Eine innere Asymmetrie
Dabei überzeichnete er seine Proportionen sogar noch, malte seine Arme und den Hals unnatürlich lang und brachte damit seine innere „Asymmetrie“ und Zerrissenheit zum Ausdruck. Was uns heute als eindringliches Selbstbildnis erscheint, glich damals einem kleinen Skandal: Niemand in Österreich malte so, erst Jahre später fanden Oskar Kokoschka und Egon Schiele zu einer ähnlichen Ausdrucksweise.
Dabei knüpfte Richard Gerstl eigentlich nur an ein Thema an, welches besonders in der damaligen Literatur mit Vorliebe aufgegriffen wurde: Die Darstellung der Kehrseiten der Zivilisation, der hässlichen Fratzen und Abgründe des Menschen, der Triebe, Phantasien und Träume, die auf der 1900 von Sigmund Freud veröffentlichten „Traumdeutung“ fußte. Ein Text, den Gerstl nachweislich gelesen hat und der zu der stilistisch radikalen Darstellung von Personen in seinen Bildern geführt hat; auch seine Selbstbildnisse wirken teilweise, als habe Gerstl hier einen regelrechten Kampf mit dem Pinsel ausgeführt und sein Innerstes mit aller Wut und Verzweiflung auf die Leinwand gespuckt. Trotz aller eruptiven Kraft besitzen diese Bilder eine ganz eigene Ästhetik der Hässlichkeit und eine Faszination, der man sich als Betrachter in unserer Zeit nur schwer entziehen kann.