VIDEO ART

(RE-)VISITING CHANGSHA

Was, wenn Roland Barthes während seines Aufenthaltes in China ein einheimischer Tourist gewesen wäre? In seiner Videoarbeit „Sight Leak“ (2022) imaginiert der chinesische Künstler Peng Zuqiang die Notizen des französischen Schriftstellers aus der Perspektive eines inländisch Reisenden neu.

Von Daniel Urban

Erst etliche Jahre nach seinem Tod wurden Roland Barthes Reiseaufzeichnungen „Carnets du voyage en Chine“ veröffentlicht. In den frühen 1970er-Jahren hatte der einflussreiche französische Philosoph und Schriftsteller mit einer kleinen Gruppe von linken Intellektuellen rund um das Literaturmagazin „Tel Quel“ eine Reise nach China unternommen, sympathisierten zu jener Zeit doch einige Schriftsteller*innen und Literaturkritiker*innen mit Mao Zedongs Kulturrevolution. Nach der Rückkehr veröffentlichte Barthes selbst nur einen kleinen Artikel in „Le Monde“, während seine Reisegenoss*innen in Büchern und Artikel-Reihen ihre Erfahrungen mitteilten. Seine postum veröffentlichten Notizen sind geprägt von einer Unzufriedenheit und Langeweile mit der Reise seinerzeit: nirgendwo dürfe er ohne die zur Seite gestellten Tour-Guides hin, die Landschaft erinnere ihn stellenweise an Frankreich und ohnehin sei das Land, gerade im Vergleich zu Japan, nicht exotisch genug, um sein Schreiben zu beflügeln.

Peng Zuqiang, Sight Leak, 2022, filmstill © Peng Zuqiang
Roland Barthes Reiseaufzeichnungen reimaginiert

In seiner neuen Videoarbeit „Sight Leak“ (2022) imaginiert der chinesische Künstler Peng Zuqiang die Notizen des französischen Schriftstellers aus der Perspektive eines einheimischen Touristen neu. Die schwarz-weißen 16mm-Aufnahmen zeigen in fragmentarischen Ausschnitten Pengs Heimatstatt Changsha: eine vollbesetzte Diskothek bei Nacht, ein städtischer Strand zur goldenen Stunde, Innenstadtstraßen am Tag. Der namenlose Tourist schaut andächtig aus dem Fenster eines Hotelzimmers, schlendert durch Straßen oder fährt mit einer Seilbahn. Aus dem Off erklingen immer wieder Stimmen, die ihrerseits fragmentarisch kleine Beobachtungen wiedergeben. Vom langen und warmen Händedruck des Tour-Guides ist da die Rede und von attraktiven Fabrikarbeitern, die ihre Arbeit unterbrechen und interessiert schauen, wer da vorbeiguckt. Die Worte erinnern an Roland Barthes Notizen, die ebenfalls von Begegnungen mit gutaussehenden Arbeitern berichten, von kurzen, innigen Blicken und einem flüchtigen Lächeln und in dessen Zeilen ohnehin immer wieder eine (homo-)erotische Sehnsucht durchklingt. Andere Stimmen aus dem Off reflektieren offenbar über die Ausführungen des französischen Schriftstellers und seinen teils vorgeformten Blick auf China.

Peng Zuqiang, Sight Leak, 2022, filmstill © Peng Zuqiang
Peng Zuqiang, Sight Leak, 2022, filmstill © Peng Zuqiang

PENG ZUQIANG. INTERVIEW

A nameless tourist in Changsha

Jener Blick des Außenstehenden rückt im weiteren Verlauf von Peng Zuqiangs Arbeit dann auch zunehmend in den Vordergrund. Der namenlose Tourist schaut immer wieder kurz in die Kamera, herausfordernd, erwartungsvoll, ohne jedoch offensiv in eine Interaktion mit der Kamera zu treten. „Perhaps gazing is less about what I am projecting but more about what the other sees in my eyes, what they see about me”, reflektiert sodann auch eine Stimme aus dem Nichts und weitet den Rahmen der Überlegungen plötzlich auf die Zuschauenden der Arbeit aus, selbst stilles Publikum, das dem Blick des namenlosen Touristen vollkommen entzogen ist. Am Ende von „Sight Leak“ werden die Reflexionen dann beinahe ironisch-selbstbewusst wieder aufgebrochen: „You are totally overthinking. Maybe they are not looking at you at all“ sagt einer zu dem anderen, der daraufhin nur noch lachen kann.

Und auch in anderen Arbeiten wie beispielsweise „Keep in Touch“ (2021) rücken kleine zwischenmenschliche Gesten und Blicke ins Zentrum des Geschehens. Die Mehrkanal-Videoinstallation zeigt kurze improvisierte Szenen, die Peng mit Freunden während einer Künstler-Residenz in Maine gedreht hat. Großaufnahmen von Händen, die sich gegenseitig die Fingernägel schneiden; eine Frau, die sich mit Tigerbalsam einreibt und zwei Männer, die energisch ambivalente Blicke miteinander austauschen, ohne dass deren Bedeutung dem Außenstehenden jemals ganz klar wird. 

Peng Zuqiang, Keep in touch, 2021, Installationsansicht, Image via pengzuqiang.com

Ein Meilenstein des new queer cinemas: „Fresh Kill“

Als zweiten Film hat sich Peng Zuqiang für den experimentellen Spielfilm „Fresh Kill“ aus dem Jahr 1994 entschieden, inszeniert von der taiwanesisch-amerikanischen Künstlerin und Regisseurin Shu Lea Cheang. Das Drehbuch schrieb Jessica Hagedorn, die ihrerseits Performance-Künstlerin, Poetin und Autorin ist. „Fresh Kill“ war in mehrerlei Hinsicht ein Meilenstein: So gilt der Film als Frühwerk des new queer cinema, das in einer bis dato kaum bekannten Selbstverständlichkeit mit Shareen Lightfoot (Sarita Choudhury) und Claire Mayakovsky (Erin McMurtry) zwei lesbische Protagonistinnen als Paar und Eltern auftreten lässt. Ebenso einflussreich war er für die damals beginnende Hacker-Subkultur mit ihrer anarchischen Freude am Sprengen von gesellschaftlichen wie auch elektronischen Grenzen – der Begriff „hacktivism“ soll durch „Fresh Kill“ geprägt worden sein. Ganz selbstverständlich gewährt der Film Einblick in eine asiatisch-amerikanische Perspektive, die in den 1990er-Jahren sonst nicht oft zu sehen war.

Shu Lea Cheang, Fresh Kill, 1994, filmstill © Shu Lea Cheang

„Fresh Kill“ folgt lose-assoziativ dem Alltag von Lightfoot, Mayakovsky und ihrer Tochter auf Staten Island, New York. Die Themenvielfalt des Films ist beachtlich und wirkt aktueller denn je: Umweltzerstörung, ungebremster Kapitalismus, eine perfide Medienlandschaft, die selbst knapp 30 Jahre später unter aktuellen Umständen noch überfordernd wirkt, sowie ein wild-dystopisches New York City, in dem die herausgeschrienen Tiraden eines Obdachlosen ebenso wichtig sind wie das kultiviert-abstrakte Gerede des Kunstpublikums in den Galerien und im „Naga Saki“, einem Edellokal, in dem ein sagenumwobener Fisch mit Kussmund serviert wird. Die überbordende, experimentelle Vitalität von „Fresh Kill“ fängt die Kamerafrau Jane Castle in phänomenalen Bildern ein – ein Film, wie eine Droge.

Shu Lea Cheang, Fresh Kill, 1994, filmstill © Shu Lea Cheang
Shu Lea Cheang, Fresh Kill, 1994, filmstill © Shu Lea Cheang
Shu Lea Cheang, Fresh Kill, 1994, filmstill © Shu Lea Cheang

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