Das SCHIRN MAGAZIN besuchte die Künstlerin und Aktivistin Katie Holten in ihrem New Yorker Studio, um mit ihr über Tree Drawings, starke Frauen und das Leben in New York zu sprechen. Holtens Serie „SHE PERSISTED“ wird im Rahmen der Ausstellung POWER TO THE PEOPLE in der SCHIRN gezeigt.
Auf der High Line wimmelt es bereits von Menschen. Der Frühling liegt in der Luft, und alle strömen zu der berühmten erhöhten Grünfläche auf der ehemaligen Güterzugtrasse wie Motten zum Licht. Es ist noch frisch, ab und zu weht ein kühler Wind, aber der Himmel ist blau und die Sonne hat schon genug Kraft, um das Gesicht zu wärmen. Die Krokusse blühen und die Büsche entlang der alten Gleise treiben schon die ersten zartrosa Knospen.
Das Mural an der 22nd Street, an dem ich vorbei laufe, ist neu und scheint fast eine Art Omen für den Rest des Tages zu sein: „I lift my lamp beside the golden door“ zeigt drei bunt gekleidete Versionen der Freiheitsstatue; jeder rinnt eine Träne über das Gesicht. Zwischen ihnen kann man die letzte Zeile aus Emma Lazarus' berühmtem Gedicht „The new colossus“ lesen, das in eine Bronzeplakette am Fuß der echten Lady Liberty eingraviert ist. Dorothy Iannone, die in Berlin lebende Künstlerin dieses Wandbilds, wählte diese drei Versionen der Figur, die so viele Einwanderer in der Vergangenheit passierten, um „ein wenig Freude in eine so häufig ermüdende und demoralisierende politische Debatte zu bringen.“
Rise and Resist
Von hier ist es nur ein kurzer Spaziergang über die noch immer sichtbaren Gleise auf der High Line zu den hübschen Kopfsteinpflasterstraßen in West Village, wo ich Katie Holten treffe, um mit ihr über ihr Projekt „She Persisted“ zu sprechen, das im Rahmen der Ausstellung POWER TO THE PEOPLE in der SCHIRN vorgestellt wird. Die ersten Hinweise auf Holtens Atelier sind zwei Schilder im Kellerfenster. Auf dem einen steht „Facts matter“ – „Facts“ in rot und „Matter“ in blau –und auf dem anderen „Resist“, mit schwarzem Filzstift auf brauner Pappe geschrieben.
Es klickt, die rot lackierte Tür geht auf und die Künstlerin steckt den Kopf heraus mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht. Sie trägt schwarze Stiefel, Jeans und ein graues T-Shirt mit V-Ausschnitt, auf dem vorne „Immigrantes bienvenidos aqui“ (Immigranten sind hier willkommen) und hinten „Rise and Resist“ steht. Ich trete ein und folge Holten durch einen schmalen, von einer nackten Glühbirne erleuchteten Gang mit jeder Menge Rohren und elektrischen Leitungen an der Decke zur ersten Tür auf der rechten Seite.
Man betritt das Atelier durch einen kleinen Vorraum, der hauptsächlich als Lager dient. Ein Jutebeutel des Strand Book Store, ein Stapel Zeitschriften, Papiere und überall liegen Stifte herum. Der Boden ist mit dunkelgrünem Teppich ausgelegt und die Decke komplett gekachelt, wie so typisch für New York. „Tut mir leid, ich komme gerade von einem Stipendium in Frankreich zurück und habe das Atelier noch nicht wieder ganz ausgepackt. Außerdem hat der Typ, dem ich die Wohnung untervermietet hatte, meine Stühle weggeworfen.“ Holtens eigentliches Studio befindet sich im nächsten Raum. Der große Schreibtisch dort ist mit Papieren, Zeichnungen und Büchern bedeckt. An der Wand lehnt eine kleine Magnettafel mit den ersten Prototypen eines neuen Baum-Alphabets, das Holten in Zusammenarbeit mit dem Department of Parks and Recreation in NYC erstellt hat.
Zu Pfefferminztee und Schokolade
Bei den Fenstern zur Vorderseite gibt es einen weiteren kleinen, eher provisorischen Arbeitsbereich mit einer Holzplatte auf Böcken. Aber es ist etwas Anderes, das einem ins Auge springt, sobald man den Raum betritt: Die rechte Wand ist fast vollständig mit schwarzer Kalkfarbe gestrichen und darauf sind weiße Kreidezeichnungen von einem Kreis nach dem anderen. „Das ist das Universum“, erklärt Holten. „Es ist eine Zeitraffer-Zeichnung – man sieht es ganz zum Schluss. Die Zeichnung hat als winzige Eichel begonnen und wurde dann zur Erde, zum Sonnensystem, zum Universum und zu einem Baum. Sie ist für das Emergence Magazine und da wird sie dann irgendwie digitalisiert.“ Holten bringt Pfefferminztee („Die Leute schenken mir immer Tee, weil ich Irin bin, nehme ich an …“) und Schokolade. Wir setzen uns vorne an‘s Fenster, Holten auf die Fensterbank und ich auf den einzigen Stuhl, den sie aus ihrer Wohnung mitgebracht hat.
Die Leute schenken mir immer Tee, weil ich Irin bin, nehme ich an…
Katie Holten kam vor 14 Jahren im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums an der Cornell University nach New York City. Geboren und aufgewachsen ist sie im ländlichen Irland; ihre Mutter ist Gärtnerin. Schwerpunkt ihrer Arbeit war und ist der Versuch, die Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umgebung zu durchdringen.
„Da ich auf dem Land großgeworden bin, habe ich den Zyklus der Natur immer sehr bewusst erlebt. Ich wurde 1975 geboren, und Ende der 1970er bis in die 1980er wurde noch nicht soviel importiert. Unsere Mahlzeiten bestanden aus Kartoffeln, Fleisch und einer Sorte Gemüse. Das war das klassische irische Gericht. Ich erinnere mich noch daran, dass wir die Milch direkt von der Molkerei auf dem Bauernhof bekamen. Wir haben unser eigenes Gemüse angepflanzt und kompostiert. Daher hatte ich den Kreislauf, wie alles miteinander zusammenhängt, praktisch immer direkt vor Augen. In einer Stadt ist man in so vieler Hinsicht von diesem Kreislauf abgeschnitten. Ich hatte einfach das Gefühl, eine Weile in einer großen urbanen Umgebung leben zu müssen, um zu sehen, wie das ist.“ Das war der Zeitpunkt, als sie nach New York kam und, wie so viele, hier hängen blieb.
Sie fand sich mitten in East Village wieder und vermisste die grünen Hügel Irlands. Ein Freund schenkte ihr “New York City Trees: A Field Guide for the Metropolitan Area” von Edward Sibley Barnard. Sie streicht sich das wellige lange Haar aus dem Gesicht und lacht: “Ich weiß noch, wie ich die Augen verdrehte und dachte: New York City und Bäume, ja klar. Aber irgendwann habe ich angefangen es zu benutzen und benutze es noch immer.“ Sie reicht mir das Buch, aus dem jede Menge hellgelbe Post-its herausragen.
Wie man mit Bäumen schreibt
„Die Tree Drawings entstanden als eine Art Karte der Spaziergänge, die ich gemacht habe. Ich habe die Bäume in den Straßen als Markierungen benutzt. Und etwa zehn Jahre, nachdem ich damit angefangen habe, habe ich erkannt, dass ich sie in Buchstaben verwandeln und so zum Reden bringen konnte.“ Irgendwann entwickelte Holten aus diesen Zeichnungen eine Schriftart, die man kostenlos downloaden kann. So kann also jeder mit Hilfe von Bäumen kommunizieren und dadurch Worten eine neue Bedeutung verleihen – z.B. dem Wort „Natur“, über die wir schon alles zu wissen glauben. Das alles war vor 2016. Dann kam die Wahl und Katie Holtens Einstellung zum Leben und zur Kunst änderte sich.
Ich hatte einfach das Gefühl, eine Weile in einer großen urbanen Umgebung leben zu müssen, um zu sehen, wie das ist.