FORENSIC ARCHITECTURE
Investigative Methoden beschränken sich nicht nur auf journalistische, forensische oder juristische Ermittlungsverfahren. Sie breiten sich auch auf dem Spielfeld der Kunst aus. Die Forschungsgruppe Forensic Architecture begibt sich auf Spurensuche.
Von Maria SitteEs sind dramatische Szenen, die den Film „Bil’in“ (2009) einleiten. Selbstgedrehte Kameraaufnahmen zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven eine Demonstration gegen die errichtete Trennmauer auf dem Ortsgebiet im Westjordanland. Wenig später kommt es zur Verwundung des palästinensischen Demonstranten Bassem Abu Rahma durch eine Tränengaspatrone. Danach: Cut. Der Rechtsanwalt Michael Sfard spricht über das Geschehen und es wird gezeigt, wie der für Abu Rahma tödlich endende Vorfall in Zusammenarbeit mit Forensic Architecture eingehend untersucht wird.
In sogenannten „investigations“ der Forschungsgruppe Forensic Architecture, die sich 2011 an der Goldsmiths Universität in London gründete, spielen wissenschaftliche Analysen eine besondere Rolle. Die Gruppe versteht sich als interdisziplinärer Think Tank und versammelt internationale Künstler, Architekten, Wissenschaftler, Filmemacher, Fotografen, Journalisten und Juristen. Gemeinsam leiten sie unabhängige Ermittlungen zu konkreten politischen Missständen und nehmen die Wahrung der Menschenrechte unter die Lupe – so auch im Fall von „Bil’in“.
Ein interdisziplinärer Think Tank
Durch ihren aufklärenden Ansatz versucht die Gruppe auch ganz konkrete Straftaten, Korruptionen und Geheimhaltungsversuche als Bedrohung der Demokratie aufzudecken. Am Ende ihrer Recherchen stehen meist erzählerische Filme, interaktive Karten oder akustische Arbeiten. Namhafte Künstlerinnen und Künstler wie Lawrence Abu Hamdan oder Susan Schuppli waren bereits Teil des Think Tanks. Obwohl es sich nicht ausschließlich um künstlerische Arbeiten handelt, werden ihre Untersuchungen immer wieder in zeitgenössischen Ausstellungen gezeigt und erhalten durch ihre Platzierung im Kunstkontext eine ganz andere Sichtbarkeit.
Das visuelle Material sowie räumliche und architektonische Gegebenheiten stehen im Mittelpunkt einer jeden Untersuchung. Aufwendige Videoanalysen, Bildvergleiche, Montagen, Synchronisationen und 3D-Visualisierungen werden gepaart mit reflexiven Kommentaren. Erst durch diese Technik decken die Bilder übergeordnete politische Konflikte auf. Der Clou: Vor Gericht dienen die Arbeiten als Beweisstücke und besitzen somit auch eine rechtswirksame Dimension. Dank dieser Vorgehensweise konnten, zusammen mit dem Ausgangsmaterial für „Bil’in“, schließlich räumliche Informationen generiert werden, die zur Aufdeckung der Flugbahn der Tränengaspatrone führten: Der Schuss zielte demnach direkt auf Abu Rahma ab.
Visuelle Beweise und investigative Spurensuche
Inhaltlich bezieht die Forschungsgruppe damit eindeutig Position: Es gilt, die stille Akzeptanz und den opportunen Konsens zu durchbrechen; genauer gesagt Kunst, Politik, Technik und Wissenschaft verschmelzen zu lassen und mit den Mitteln des Films über die Welt nachzudenken. Damit einher geht auch die Frage danach, wie Wahrheit produziert wird.
Forensische und investigative Methoden stellen gegenwärtig einen unübersehbaren „Trend“ in der Bildenden Kunst dar. Vergleichbar mit der Arbeit investigativer Journalisten handelt es sich oft um forschungsbasierte Projekte: Konvolute aus Protokollen, Presseberichten, Fotos und Soundaufnahmen werden hierfür gesichtet, ausgewertet und im Kunstkontext präsentiert. So nahm Lawrence Abu Hamdan erst kürzlich die Lärmbelästigung in Kairo unter die Lupe, wohingegen sich Susan Schuppli in aktuellen Arbeiten mit toxischen Folgen von Atomunfällen und Ölkatastrophen beschäftigt. Gerade diese analytische Ermittlungspraxis innerhalb der zeitgenössischen Kunst zeigt das dringende Bedürfnis, bestehende Ungerechtigkeiten aufzudecken und gleichzeitig Beweise zu konzipieren, die politische, ökologische oder soziale Wirkung erzielen.
Verbrechen in der Kunst
Sicherlich existiert die Faszination für Straftaten oder Kriminalfälle in der Kunst schon lange. Zuhauf findet man das Verbrechen als Motiv in Werken zahlreicher Künstler und Schriftsteller von René Magritte bis Truman Capote oder David Lynch. Delikte wurden idealisiert, romantisiert, umgedeutet, moralisiert und karikiert. Es ist allzu verständlich, dass auch in der zeitgenössischen Kunst dieser Wunsch nach Aufklärung fortlebt. Doch die Art und Weise Verbrechen zu erklären und aufzuklären, hat sich verändert. Die Themen haben inzwischen eine ganz neue Komplexität erreicht – technische, forensische und digitale Entwicklungen tragen ihr Übriges dazu bei. Vor allem scheinen Erforschungen und Enthüllungen bis hin zu Tatsachenberichten immer mehr an Bedeutung zu gewinnen. Die investigative Analyse muss daher nicht zwangsläufig ein Monopol des Staatsapparates sein, wie Forensic Architecture beweist.
Neue Strategien für politische Kunst – Teil II
Auf den ersten Artikel zu politischer Kunst folgt nun Teil II, der sich Sit-ins, Plakaten und...
Neue Strategien für politische Kunst – Teil I
Politisch engagierte Kunst wäre nur schwer ohne die Ereignisse um 1968 zu denken. Auch wir leben...
Geschichte als Fetisch
Geschichte lebt in Erinnerungen fort und wird in jeder Generation neu erzählt und interpretiert. Mit...
Ich bin ein politischer Künstler!
Der Künstler Nasan Tur, 1974 in Offenbach geboren, lebt und arbeitet in Berlin. Das SCHIRN MAG hat...
Räumliche Grenzen ausloten
Farbig gesprenkelte Holzpflöcke in Sandsäcken und ein Meer bunter Fahnen ragt aktuell in den Himmel...
Im Einsatz für die Demokratie
Das SCHIRN MAG hat die italienische Professorin Donatella della Porta von der Scuola Normale...
Und was war nochmal vor 1968?
Das Museum Giersch holt mit "Freiraum der Kunst" einige längst vergessene und noch heute prominente...
Adelita is typing...
Das SCHIRN MAG hat mit der Künstlerin Adelita Husni-Bey gechattet und über politische Kunst,...
Talkin' 'bout a revolution – Teil 2
Die Künstlerin Katie Holten lebt und arbeitet in New York, wo das SCHIRN MAG sie besucht hat. Im...
Power to the People
Der SCHIRN PODCAST zur Ausstellung POWER TO THE PEOPLE ist eine Tour de Force aktueller politischer...
Power to the People – Soundtrack
Der Soundtrack zur Ausstellung “Power to the People” in der SCHIRN vereint Songs von 1937 bis heute,...
Durch die Schirn mit Martin Keßler
Seit 15 Jahren begleitet der Filmemacher Martin Keßler Demonstrationen mit der Kamera. Bei einem...
Talkin’ ’bout a Revolution - Teil I
Das SCHIRN MAGAZIN besuchte die Künstlerin und Aktivistin Katie Holten in ihrem New Yorker Studio,...
Das Jahr der Revolte in Frankfurt
Protest gegen die alten Strukturen an der Universität, die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg:...
Die DNA des Protests
Wolfgang Kraushaar ist Politikwissenschaftler an der Hamburger Stiftung zur Förderung von...
Power to the People - Von den 1960ern bis heute (Teil 2)
Bekannte Persönlichkeiten, wie die Musiker John Lennon, James Brown oder der Computerspezialist Ted...
Power to the People - von den 1960ern bis heute
Alle Macht dem Volk. So die Idee des Slogans „Power to the People“. Von Bürgerrechtsbewegungen...
Power to the People
Ab 21. März 2018 präsentiert die Schirn eine große Ausstellung zur politischen Kunst der Gegenwart....