Wo entsteht eigentlich das menschliche "Ich"-Gefühl? Ein Essay des Philosophen Thomas Metzinger.
Kann man sich vorstellen, das Bewusstsein und Selbstbewusstsein „von unten“ entstanden sind, aus der Natur heraus? Am Anfang stand für Tiere die Notwendigkeit, Sinneswahrnehmungen zu kontrollieren und flüssig in Bewegungen abzubilden. Das heißt, die Evolution von Nervensystemen und geistigen Eigenschaften hatte sehr viel damit zu tun, einen Körper als Ganzheit zu kontrollieren, sich intelligent in der Welt zu bewegen. Meine eigene, aktuelle Forschung konzentriert sich nun auf die Frage: Was ist eigentlich die einfachste Form von Ich-Gefühl? Was sind die minimalen Ressourcen, die man braucht, damit dieses Erleben – »ich bin jemand«, »ich bin ein Selbst« – entsteht?
Zusammen mit Olaf Blanke und seinem Team in Lausanne haben wir in diesem Zusammenhang einige interessante Experimente entwickelt. Mit Hilfe entsprechender Techniken konnten die Versuchsteilnehmer dabei ein virtuell erzeugtes Bild ihres eigenen Körpers als einer vor ihnen stehende Person sehen. Eine besondere Versuchsanordnung führte schließlich bei vielen Versuchspersonen dazu, dass sie ihr Selbst außerhalb des eigenen Körpers wahrnahmen. Sie lokalisierten ihr Selbstgefühl tatsächlich in dem simulierten Körper vor ihnen und manche hatten das eindeutige Gefühl, dieser virtuelle Körper, den sie vor sich sahen, sei ihr eigener.
Philosophisch interessant an der Möglichkeit solcher Erfahrungen ist die Erkenntnis, dass man das ganz elementare Ich-Gefühl, dieses Gefühl von »Ich bin das!«, also die Identifikation mit dem Bild eines Körpers, und das »Ich bin jetzt hier!« in diesem Körper offensichtlich kontrolliert hin und her springen lassen kann. Es scheint also so zu sein, dass man schon durch relativ einfache Experimente unser elementares Ich-Gefühl an etwas Anderes gleichsam anheften kann.
Was dies ganz offensichtlich zeigt, deckt sich mit einer zentralen Aussage meines Buches »Der Ego-Tunnel«: Was wir fälschlicherweise als »das Selbst« bezeichnen, ist viel weniger fest gefügt, als wir uns das zumeist vorstellen. Tatsächlich ist dieses Selbst nichts anderes als der Inhalt eines Modells, eines Bildes, das im Gehirn erzeugt wird. Und das Besondere an diesem Bild ist, dass wir es nicht als ein Bild erleben können.
Wir sind wohl Wesen, die in sich ein Bild ihres Körpers und auch ihrer Gedanken und Gefühle erzeugen und wir benutzen dieses Bild, um uns zu bewegen, um unser Leben zu leben und um über unsere Gefühle und Gedanken zu berichten. Aber wir erkennen es nicht als ein Bild. Diese Durchsichtigkeit – wir Philosophen sagen: die „phänomenale Transparenz“ – macht überhaupt erst unser robustes Ich-Gefühl möglich. Es erlaubt uns das scheinbar direkte Erleben unseres Körpers, ja von uns selbst als einer Ganzheit.
Zwar konnte noch nicht gezeigt werden, dass man geistige Zustände begrifflich zurückführen kann auf körperliche Zustände. Aber eine Erkenntnis ist inzwischen empirisch sehr gut gesichert: Es gibt eine sehr starke Determination von »unten nach oben«: Es sind Hirnzustände, die darüber entscheiden, wie wir uns selbst erleben, wie wir unseren Arm, unsere Hand oder unseren Bauch erleben – und ob wir sie als unsere erleben. Die direkte Ursache dieses Erlebens sind eindeutig Vorgänge im Gehirn und nicht Vorgänge in der Hand oder im Bauch oder im Arm oder sonst wo.
Wir müssen also davon ausgehen, dass jede bewusste Körpererfahrung in Wirklichkeit in einem starken Sinn lokal im Gehirn stattfindet. Körpererleben gibt es ja auch im Traum oder während einer außerkörperlichen Erfahrung, während der physische Körper vollständig gelähmt ist. Schauen wir in die Tradition, dann finden wir Aussagen wie die von Aristoteles, der gesagt hat: Die Seele ist die Form des Leibes. Die Seele zerfiel für ihn zwar ebenso wie der Körper beim Tod. Aber die Seele ist sozusagen das innere Formprinzip, das die Teile zusammenhält. Und vom Philosophen Spinoza hören wir: Die Seele ist die Vorstellung, die der Körper von sich selbst entwickelt, also das Bild, das er aufbaut – denn das Objekt der Seele ist der Leib.
Neuere Theorien – wie meine eigene Theorie, die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität – sagen nun, dass aus dem Bild des Körpers heraus alle höheren Ich- Funktionen entstehen, dass sie funktional in ihm verankert sind. Das gilt auch für die geistigen Funktionen und für soziale Interaktionen. Die Basis unseres Selbstmodells ist das Körper-Modell. Und das ist zunächst nichts anderes als ein Modell der globalen Form des Körpers im Raum. Dazu gehören dann aber auch etwa der Gleichgewichtssinn und die Innenwahrnehmung, aus der sich die Emotionen entfalten.
Wenn man sich die vielen Modelle vergegenwärtigt, die unser Gehirn in einem einzigen Moment erzeugen muss: das Modell des Tisches vor mir, das der Zeitschrift in meinen Händen, die ich gerade lese, des Hauses um mich, das Modell meines Körpers – woher weiß ich eigentlich, dass es das alles wirklich gibt? Dass mein Bezug auf die Wirklichkeit um mich herum wirklich erfolgreich, stimmig ist? Unter all den vom Gehirn erzeugten Modellen ist es nun in erster Linie das Körpermodell, mit dem wir wirklich ganz dicht in der Welt verankert sind, tief und fest.
Im Gegensatz zu allen anderen Modellen kann das Körpermodell im Gehirn eigentlich nicht fehlgehen in der Bezugnahme. Es ist das einzige, das immer tatsächlich seinen Gegenstand ergreift: Es erfasst ihn über ein ständig vorhandenes kausales Bindeglied, denn es ist ja selbst ein Teil des Körpers, ein Erregungsmuster im Gehirn. Die Beziehung zwischen Körpermodell und Körper ist also ganz direkt, die Einbettung eines Teils in eine Ganzheit. Es ist eine über die vielen Jahre unseres Lebens andauernde vielschichtige Schleife der Informationsverarbeitung, in der sich der Lebensvorgang selbst bewusst wird.
Entsprechend haben schon viele Philosophen darüber geschrieben, dass der Körper ein ganz besonderes Wahrnehmungsobjekt ist. Das Gehirn kann vor ihm nicht wegrennen, er ist immer da, das ganze Leben lang. Wenn man allerdings genauer hinschaut, existiert im normalen Alltag in unserem subjektiven Erleben eigentlich nie der Körper als Ganzes in unserem bewussten Selbstmodell. Es sind eher Inseln der Aufmerksamkeit, die unserer Körperlandschaft auftauchen: Hier drückt etwas, dort spüren wir kurz hin, jetzt haben wir Hunger, da schämen wir uns.
Es gibt seltene Fälle, bei denen Menschen selektiv durch eine bestimmte Verletzung im Gehirn körperblind werden. Sie verlieren ihr Körpergefühl und nur das. Das beweist, dass es tatsächlich so etwas gibt wie ein Körpermodell mitsamt dem entsprechenden Innen-Gefühl. Manche dieser Menschen lernen, ihren Körper nur mit dem Sehsinn zu bewegen. Sie schauen sich also von außen wie eine Marionette an und lernen tatsächlich wieder zu laufen und Dinge anzufassen, ohne sie zu zerbrechen, obwohl sie ja kein Gefühl mehr dafür haben. Bei solchen Leuten ist es dann tatsächlich so: Wird das Licht ausgeknipst, dann fallen sie auf dem Boden in sich zusammen, die Körperkontrolle ist sofort weg. Sie brauchen das Licht um sich sehen zu können. Weil sie kein Innenbild mehr haben, können sie nur so ihren Körper noch bewegen.
Es ist also möglich, das Gefühl für den Körper zu verlieren, sich gleichsam körperlos zu empfinden und wir können vielleicht auch vermuten, wodurch im Gehirn solche Wahrnehmungen vermittelt werden. Was nun aber interessant ist: Zwar kann man durch eine Hirnverletzung ganz selektiv das Körpergefühl, die Eigenwahrnehmung für den Rest des Lebens komplett verlieren, aber man verliert dadurch offensichtlich noch nicht das Ich-Gefühl. Die betroffenen Patienten haben ja keine Depersonalisationsstörung wie manche Schizophrene. Sie haben auch nicht das Gefühl, dass gerade eine angstvolle Ich-Auflösung stattfindet. Vielmehr versuchen sie mit dieser Behinderung weiter zu leben.
Das zeigt, dass dieses normale Ich-Gefühl, das wir haben, nicht nur aus unserem Körperbild besteht. Es bildet sich auch aus der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit kontrollieren zu können - das scheint ganz wichtig zu sein – oder willentlich denken zu können. Zum Beispiel gibt es auch „körperlose Träume“, in denen das Ichgefühl stabil ist obwohl es nur an einen ausdehnungslosen Punkt im Raum gebunden ist. Wenn man sich jetzt jemanden vorstellt, der körperblind ist; der gleichzeitig keine Kontrolle mehr über seine Gedanken hat, wie jemand, der in einem Rausch ist oder vollständig in einem Traum; und der schließlich keinerlei Kontrolle mehr über die eigene Aufmerksamkeit hat, wie ein Säugling oder ein dementer alter Mensch, dann könnte man schon vermuten: Eine solche Person hat wirklich kein bewusstes Selbst mehr. Es ist weg, wenn diese drei Komponenten: Körper, Aufmerksamkeit und Denken nicht mehr kontrollierbar sind.
Daraus kann man etwas folgern: das Selbstgefühl hat scheinbar sehr viel mit Kontrolle zu tun. Und zwar mit globaler Kontrolle. Ein Selbst-Gefühl hat man dann, wenn man den Körper als Ganzen kontrolliert. Wenn man den Denkprozess zu ordnen und zu strukturieren versucht und die Gedanken nicht ziehen lässt und wenn man versucht, die Aufmerksamkeit zu kontrollieren, dann entsteht auch ein ganz bestimmtes Selbstgefühl. Das Ich-Gefühl hat also anscheinend sehr viel mit Kontrolle und Anstrengung zu tun. Und das Auflösen des Ich-Gefühls hat sehr viel mit Loslassen, mit dem Verlieren oder Aufgeben von Kontrolle zu tun.
Über den Autor:
Prof. Dr. Thomas Metzinger ist ein deutscher Philosoph und Professor für theoretische Philosophie an der Universität Mainz. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die Philosophie des Geistes, die Wissenschaftstheorie der Neurowissenschaften und die Neuroethik.
Illustration: Jan Buchczik