Martha Rosler setzt sich in ihrem Werk immer wieder mit Kriegen und Konflikten sowie Friedens- und Protestbewegungen auseinander. Im Gespräch mit Friedens- und Konfliktforscherin Thania Paffenholz erfahren wir, welche Schritte Friedensprozesse für gewöhnlich durchlaufen und vor welchen Herausforderungen heutige Friedensbestrebungen stehen.
Liebe Frau Paffenholz, Sie forschen seit vielen Jahren zu nachhaltigen
Friedensprozessen und beraten Institutionen wie die Vereinten Nationen und die Europäische Union. Zugleich sind Sie Direktorin von Inclusive Peace, einem Thinktank, der Friedensprozesse weltweit erforscht und begleitet. Wie würden Sie Frieden definieren?
Thania Paffenholz: Zunächst einmal hat Frieden immer verschiedene Dimensionen und auch verschiedene Ziele, je nachdem, in welchem Stadium sich ein Land oder ein Prozess befindet. Aber ich denke, wir sollten ehrlich sein und sagen, perfekten Frieden wird es nie geben. Frieden ist utopisch. Er ist ein Zustand, der niemals ganz erreicht werden kann, vielmehr geht es darum, sich dem Frieden maximal anzunähern.
Die Künstlerin MARTHA ROSLER hat sich in ihrem Werk seit mehreren Jahrzehnten mit unterschiedlichsten Kriegen und Konflikten beschäftigt, angefangen beim Vietnamkrieg über den Bosnienkrieg bis hin zum Krieg in El Salvador. Was zeichnet formale offizielle Friedensprozesse aus? Können Sie uns einen Einblick geben, welche Schritte Friedensverhandlungen für gewöhnlich durchlaufen?
Thania Paffenholz: Friedensprozesse dieser Art laufen eigentlich immer gleich ab: Die Akteure, die Waffen haben werden zusammengebracht, um einen Waffenstillstand zu verhandeln. Sehr populär wurde dann später ein sogenanntes “comprehensive peace agreement”. Das war größer als nur ein Waffenstillstand und fokussierte sich auf die Frage, wie ein Land wirklich dauerhaft befriedet werden kann. Und dann gibt es einen Implementierungsprozess, wo dann genau festgelegt wird, was gemacht werden muss. So sind eigentlich fast alle Friedensprozesse der 90er- und 2000er-Jahre abgelaufen. Doch heute wissen wir, dass die Realität so nicht funktioniert: Wo ist der Frieden in Afghanistan? Oder in Bosnien? In Afghanistan wurde nach diesem Modell zu keinem Zeitpunkt eine Waffenruhe erreicht und wo das Land heute steht unter den Taliban, wissen wir leider nur zu gut. In Bosnien schweigen die Waffen seit dem Friedensvertrag zwar, dennoch ist das Land weiterhin ethnisch extrem polarisiert.
In den meisten Ländern, in denen es Friedensprozesse dieser Art gab, herrscht weiterhin viel Gewalt. In Lateinamerika beispielsweise, reden wir in der Fachwelt von einer ‘Transformation von Gewalt’, denn die militärische Gewalt während des Krieges hat sich in kriminelle oder private Gewalt verwandelt. In Lateinamerika gibt es die höchsten Mordraten der Welt, in Mexiko zum Beispiel die höchsten Raten an Feminiziden, also Morden an Frauen.
Schon früh engagierte sich Rosler auch in Protest- und Friedensbewegungen. Am 1. Mai 1981 fotografierte sie für ihre Serie „May Day“ in Mexico City eine staatlich gelenkte Friedensdemonstration von Gewerkschaften, die Geschlechtergleichstellung und ausreichenden Lohn forderten. Wenige Tage später nahm sie wiederum an einer zivilen Demonstration teil, die in Washington, D.C., vor dem Pentagon stattfand und deren Protest sich u.a. gegen die unerklärten Kriege der USA in Zentralamerika richtete. Welchen Strategien bedienten sich zivile Friedensbewegungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt?
Thania Paffenholz: Es gibt verschiedene Typen von Friedens- und Demokratie-Bewegungen. Martha Rosler dokumentiert vorrangig politische Bewegungen, die mit vielen Menschen auf die Straße gingen. Solche Protestbewegungen erlangen auch heutzutage gerade in Kombination mit medialer Berichterstattung Aufmerksamkeit. Zum Beispiel Anfang der 90er-Jahre während des arabische Frühlings, dort gingen die Menschen zunächst auf die Straße, um gegen die zu hohen Weizenpreise zu demonstrieren. Doch plötzlich kippte die Stimmung und wandelt sich zum Protest gegen die autoritären Regierung. Wir haben eine Renaissance an solchen Bewegungen in den letzten 5 Jahren erlebt, man denke etwa an Belarus oder Myanmar, wo die Proteste zunächst von Mönchen geleitet und dann von der Zivilgesellschaft massiv befördert wurden. Auch im Sudan haben sie ja sehr beeindruckend den Diktator Umar al-Bashir, den längst eingesessenen Diktator Afrikas, in Form einer zivilen Friedensbewegung durch Demonstrationen und sehr mutige Zivilcourage entmachtet.
Eine Arbeit von Martha Rosler heißt „It lingers“ und beschreibt den Krieg als andauernden Zustand. Würden Sie sagen, dass die Bemühungen um Frieden vergeblich waren?
Thania Paffenholz: Es gab und gibt immer wieder Rückschläge. Im Sudan hat die Protestbewegung es zeitweise geschafft, doch zwei Jahre später hat das Militär wieder zurückgeputscht und die demokratische Regierung abgesetzt. Das gleiche ist in Myanmar passiert, dasselbe auch in Ägypten. Ich würde das aber so bezeichnen, dass zivile Protestbewegungen unglaublich viel Macht haben, sie können unglaublich viel erreichen. Was oft schwierig ist, ist allerdings die folgende Frage: Wie lässt sich der revolutionäre Moment in eine dauerhafte Demokratie transformieren? Im Falle von autoritären Regimes geht es immer darum, wie stark das Militär ist. Ich habe vor einigen Jahren darüber geschrieben und es “perpetual peacebuilding" genannt. Gemeint ist, dass man solche vermeintlichen Rückschläge nicht als Fehler ansehen sollte. Historisch betrachtet ist es normal, dass es sowohl vorwärts als auch rückwärts geht. Auf Englisch bezeichne ich das als eine “renegotiation of the social and political contract”. Es gibt immer wieder Neuverhandlungen innerhalb der sozialen und politischen Vereinbarungen und es wird immer wieder Erfolge und Rückschlag geben. Wenn wir uns ansehen, wie viele Regierungen jetzt auch in Europa einen Rechtsruck gemacht haben, ist das bis zu einem gewissen Grad normal, aber es ist eben sehr traurig und schwierig auszuhalten, wenn man mitten drin ist. Vor allem, wenn man Länder wie Afghanistan sieht, wo der Rückschlag massiv ist, und Frauen heute komplett ohne Rechte dastehen, und das nach 20 Jahre Investition vom Westen.
Vor welchen Herausforderungen stehen heutige Friedensprozesse? Man denke etwa an die Neubewertung von Krieg und Frieden, die infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine in Europa auch innerhalb pazifistischer Kreise zu beobachten ist.
Thania Paffenholz: Der UNO Generaldirektor hat vor kurzen einen Report herausgegeben, der “A new agenda for peace” heißt. In diesem hat er ganz offen zugegeben, dass das alles nicht mehr so funktioniert und dass die UNO eigentlich gar keine richtige Rolle mehr in Friedensprozessen spielt. Genau das sehen wir jetzt in der Ukraine: Die Friedensbemühungen, die es bis jetzt gab, kamen von der Türkei, von Südafrika, von Brasilien. Zugleich waren fünf afrikanischen Staatschefs vor einem Monat in Kiew und Moskau. Das heißt, plötzlich haben wir ganz neue Akteure, die sich um Frieden bemühen, weil sie eben betroffen sind. Die erhalten kein Erdgas mehr, kein Weizen, kein Öl und sind dadurch gezwungen, sich einzuschalten. Es ergeben sich völlig neue Konstellationen, wenn Staaten aus dem globalen Süden plötzlich Friedensinitiativen in Europa realisieren. Also verschiebt sich hier alles und die Welt der Staaten und internationalen Organisationen hat keine Antwort darauf gefunden. Was auch wichtig zu verstehen ist, ist, dass der Konflikt verschiedene Dimensionen hat: die eine ist Russland-Ukraine und da braucht es irgendwann schlichtweg einen Waffenstillstand. Wir wissen heute aber noch nicht, wie. Vielleicht wird es auch nie eine Friedensregelung geben, oder es läuft auf leichtes Konfliktmanagement hinaus und gestaltet sich ähnlich wie zwischen Nord- und Südkorea. Der Konflikt hat auch gezeigt, dass die Schnittstelle zwischen Ost und West nach dem Ende des Ost-West-Konflits von Deutschland nach Osten verlegt wurde. Nun ist die Ukraine die Stelle, wo die Systeme anstoßen. Das heißt, die Ukraine ist der betroffene Staat, aber eigentlich geht es darum, dass es die Nato und Russland seit dem Ost-West-Konflikt nicht geschafft haben, sich hinzusetzen und miteinander neu zu verhandeln. Früher wurden klassische Abrüstungsverhandlungen geführt, doch mit Ende des Ost-West-Konflikts hat der Westen seinen eigenen Sieg proklamiert. Es steht außer Zweifel, dass Russland internationale Normen gebrochen hat, was völkerrechtlich illegitim ist. Dennoch wird Russland auf jeden Fall in nächster Zeit eine Größe, die man nicht ignorieren kann, ob einem das gefällt oder nicht. Hier benötigt es neue Verhandlungen.
Bei inclusive Peace nennen wir das den „reality based approach“ und empfehlen damit, nicht länger von der Friedensutopie, sondern von der Realität auszugehen und auf Basis dessen konkrete Regelungen zu finden. Ich finde es sehr traurig, dass auch ein Land wie Deutschland, welches sich eigentlich als Friedensmacht etabliert hat, sagt, es möchte die wichtigste Militärmacht Europas werden. Denn bislang wurde sich kaum mit den Möglichkeiten beschäftigt, wie wir diesen Krieg überwinden könnten. Von führenden Politiker*innen kommen stattdessen Sprüche, wie “mit der Ukraine bis zum Endsieg”, und das ist natürlich vollkommen realitätsfremd. Es ließen sich so viele Menschenleben retten, wenn man sich einfach politisch konsequenter an die Realitäten halten würde, anstelle von irgendwelchen Regeln, die es längst nicht mehr gibt.
Welche globalen Dynamiken haben Ihrer Meinung nach die größten Auswirkungen auf künftige Friedensprozesse?
Thania Paffenholz: Es wird in Zukunft viel mehr lokale Lösungen geben. Das sieht man heute beispielsweise, wenn es um den Krieg im Sudan geht. Da besprechen die Nachbarländer, was sie zum Frieden beitragen können. Es wird viel mehr Regionalmächte geben, die sich neu etablieren und Länder aus dem globalen Süden werden mehr und mehr Einfluss gewinnen. China ist dabei natürlich auch ein ganz wichtiger Faktor. Es wird sich vieles verschieben, das ist das eine.
Das andere ist die wachsende Bedeutung von Social Media für Friedens- und Protestbewegungen, wie z.B. ‚Fridays for Future‘, aber auch ‚Me too‘ und ‚Black Lives Matter‘ gezeigt haben. Bei ‚Me too‘ gab es eine Online-Kampagne, die unglaublich viel verändert hat. Mit nur einem Hashtag wurde in einigen Ländern vieles bewirkt, denn die Frauenbewegungen in diesen Ländern nutzten dieses Hashtag, um Gesetzesvorlagen anzupassen. Ich glaube, dass Online-Bewegungen, die Hashtags machen oder über Instagram oder Tiktok agieren, viel mehr Bedeutung in der Zukunft erhalten und mit Protestbewegungen kombiniert werden, die sehr spezifische Dinge ansprechen und sich hoffentlich stärker vernetzen werden.
Sie selbst haben 2016 gemeinsam mit weiteren Wissenschaftler*innen den bemerkenswerten Bericht „MAKING WOMEN COUNT – NOT JUST COUNTING WOMEN: ASSESSING WOMEN’S INCLUSION AND INFLUENCE ON PEACE NEGOTIATIONS“ herausgebracht, für den Sie den Einflussrahmen von Frauen auf Friedensbewegungen untersucht haben. Auch Martha Rosler verbindet in ihrem Werk Kriegskritik mit einer feministischen Sichtweise, wie z.B. Arbeiten aus der Serie „House Beautiful: Bringing the War Home, new series“ bezeugen. Wie steht es aktuell um den Einbezug weiblicher Perspektiven in staatlich geleiteten Friedensprozessen? Wären inklusivere Friedensverhandlungen eine (Teil-)Prämisse, unter der wir uns dem Frieden dauerhaft annähern könnten?
Thania Paffenholz: An den Friedensprozessen lässt sich erkennen, dass seit den letzten zehn Jahren Inklusion das große Thema ist. Unserer Studie hat viel bewegt, wir arbeiten auch sehr viel mit Frauengruppen, aber es geht uns dabei eben nicht um dieses “Counting Women”, also darum, wie viele Frauen anteilig dabei sind. Wir haben in unserer Studie festgestellt, dass es vielmehr darum geht, wie viel Einfluss wir als Frauen im Prozess haben. Denn nur da sein reicht nicht. Und was wir auch immer mehr sehen, ist, dass es nicht nur um den Prozess geht, sondern um die Resultate. Schließlich möchte man in diesen Friedens- und auch Transitionsprozessen, dass am Ende mehr Frauen im Parlament, in der Wirtschaft, in Entscheidungspositionen sind. Es geht nicht nur darum, ob bei den Verhandlungen genug dabei waren, sondern wie die Gesellschaft sich weiterentwickelt. Anders als die soeben erwähnten Werke von Martha Rosler, die im Kontext der 60er bis 80er-Jahre entstanden sind, geht es heute um eine viel holistischere Sichtweise zur Inklusion, die man in der Fachwelt mit Intersektionalität verbindet. Wo kommen die Frauen her, aus welchen gesellschaftlichen und politischen Schichten, welche Generationen vertreten sie usw. Zugleich geht es bei Inklusion heute nicht nur um Frauen, sondern auch um andere Geschlechterkonstruktionen und Gruppen, wie zum Beispiel, junge Menschen. Wo werden die jungen Menschen denn in Entscheidungen miteinbezogen? Das Thema ist breiter geworden.