Wie ist die Malerei entstanden? René Magritte beschäftigte sich mit den antiken Mythen rund um den Ursprung der Kunst und ihren Zweck. Eine Spurensuche.
Der Geliebte muss zur Seefahrt aufbrechen. Also zeichnet eine junge korinthische Frau den Schattenriss seines Profils auf der Wand nach. So soll, laut der Legende des römischen Gelehrten Plinius dem Älteren, die Malerei entstanden sein. Der Schatten als Ursprung der Malerei.
René Magritte sah sich selbst als malenden Philosophen: er setzte sich intensiv mit der Malerei und den Mythen ihrer Erstehung auseinander. Davon zeugen besonders jene Motive, die immer wieder in seinem Werk auftauchen: Vorhänge, Flammen, Schatten, Höhlen. Sie verweisen auf Legenden und Allegorien, die den Status der Bilder und deren Beziehung zur Wirklichkeit hinterfragen. Aus diesem ersten Ursprungsmythos entlehnte Magritte drei Elemente seines malerischen Vokabulars: Kerze, Schatten und Silhouette.
Geblendet und sinnlich verwirrt
Der Schattenumriss des Geliebten ist nicht er selbst, es ist nur sein Abbild. Magritte spielt mit unterschiedlichen Ebenen von Wirklichkeit und verschränkt und verschachtelt sie auf spielerische Weise. Das prominenteste Beispiel hierfür ist natürlich „Der Verrat der Bilder (Dies ist keine Pfeife)“ von 1929. Zwar tauchen hier die genannten Motive nicht auf, doch Magritte verdeutlicht klar den Unterschied zwischen Wahrnehmung, Abbild und Realität.
Magritte hat sich tiefgreifend mit Platons Höhlengleichnis auseinandergesetzt. Das Gleichnis handelt davon, wie Menschen, die festgebunden in einer Höhle leben, nur die Schatten von Objekten sehen, die von einem Feuer hinter ihnen an die Höhlenwand vor ihnen projiziert werden. Vom Ausgang der Höhle wissen und sehen sie nichts. So nehmen die Gefesselten die Schatten als einzige Wahrheit wahr. Käme einer von ihnen frei, würde er – geblendet vom Licht und sinnlich verwirrt – nichts von seiner Außenwelt für real halten, abgesehen dessen was er kennt: ihre Schatten.
Der Schatten ist die Wahrheit
Das Höhlengleichnis verarbeitet Magritte am eindrücklichsten in seinem Werk „La Condition humaine (So lebt der Mensch)". Dort scheint der Bewohner der Höhle bereits befreit, denn er blickt vom Inneren auf den Ausgang einer Höhle. Der Ausgang eröffnet den Blick auf eine in der Ferne liegende Landschaft. Inmitten des Ausgangs steht jedoch eine Staffelei, auf der ein Bild steht, das anscheinend die dahinterliegende Landschaft abbildet – oder eben auch nicht. Direkt daneben brennt ein Feuer, ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv. Die Malerei ist kein Spiegelbild der Welt, sondern die Nachbildung einer Realität. Der Schatten – und somit die Malerei – ist eine eigene Form der Wahrheit.
Auf dem Höhlengleichnis begründet Magritte auch sein eigenes surrealistisches Manifest, mit dem er den Surrealismus reformieren will und die Bewegung aufruft, die "Höhle zu verlassen". Mit diesem Aufruf verscherzt er es sich allerdings mit dem Dichter und tonangebenden Surrealisten André Breton. Magritte begründet daran anschließend seine „Période vache“, in der er den sinnlichen Effekt imitieren möchte, den der Höhlenbewohner beim Verlassen der Höhle mit dem Anblick der Wirklichkeit erleben würde.
Die Täuschung des Menschen
Das bei weitem häufigste Motiv in Magrittes Werk sind jedoch Vorhänge. Die wiederum beziehen sich auf einen weiteren Ursprungsmythos der Malerei, die "Naturalis historia" von Plinius des Älteren: Eines Tages malte der griechische Künstler Zeuxis ein Gemälde mit Weintrauben, die so echt wirkten, dass Sperlinge herbeiflogen, um von den Früchten zu picken. Sein Malerkollege und Konkurrent Parrhasios sah das und bat Zeuxis in sein Atelier, um ihm ein Gemälde zu zeigen. Er forderte Zeuxis auf, den Vorhang vor dem Gemälde beiseite zu ziehen. Als dieser jedoch den Vorhang berührte, merkte er, dass dieser nur gemalt war. Da räumte Zeuxis seinem Konkurrenten den Vorrang ein, da dieser mit seiner Malerei einen Menschen – und nicht nur Tiere – täuschen konnte.
Magritte beweist mit dem Vorhang, den er realistisch wie ein Trompe-l'oeil malt, einerseits sein künstlerisches Können. Und stellt ihn andererseits gleichzeitig in einen ironisierten Kontext, denn er legt seine illusionistische Wirkkraft offen. Wie etwa in „Le soir qui tombe (Der hereinbrechende Abend)". Hier ist ein Fenster zu sehen, das selbstverständlich von Vorhängen flankiert wird. Der Blick aus dem Fenster zeigt eine Landschaft mit Sonnenuntergang.
Die Wahrheit in kleinen Stücken
Doch das Fensterglas ist teilweise zerbrochen und liegt auf dem Fußboden. In den Glasscherben sind wiederrum Fragmente derselben Landschaft und des Sonnenuntergangs zu sehen. Die Vorhänge dienen in diesem Fall nur dem subtilen Verweis auf den Mythos. Die Glassplitter sehen aus, als könne man sich an ihnen schneiden. Dabei möchte man sie in die Hand nehmen und den Sonnenuntergang darauf bewundern. Magritte ist ein Meister darin, die Wahrheit in kleine Stücke zerspringen zu lassen, um die vielen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man sie wieder zusammensetzen könnte.