Inspiriert durch die Aktionen der Pariser Surrealisten entsteht Ende der 1920er-Jahre auch in Brüssel eine surrealistische Gruppe um René Magritte. Doch die Belgier unterschieden sich in wichtigen Punkten von den Franzosen.
„SURREALISMUS, Substantiv, m. - Reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es schriftlich, sei es mündlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen und ethischen Fragestellungen.“
So definiert André Breton 1924 in seinem „Manifest des Surrealismus“ die Bewegung, die er mit einigen befreundeten Künstlern gegründet hatte. Man will sich mit einer Neu-Definition der Kunst von den satirischen Aktionen der Dadaisten separieren und eine „surrealistische Revolution“ auslösen. So heißt denn auch die Publikation, die ab 1924 von den französischen Schriftstellern André Breton, Pierre Naville und Benjamin Péret herausgegeben wird.
Faszination für rätselhafte Symbole
Äußerlich unscheinbar und harmlos, beschäftigen sich die Texte und Zeichnungen im Magazin unter anderem mit den Abgründen der Psyche, mit Gewalt, Sexualität und Selbstmord. Denn unter den Pariser Surrealisten ist man von den Geheimnissen des Unbewussten fasziniert, man begeistert sich für die „Traumdeutung“ Sigmund Freuds und dessen Deutung der rätselhaften Symbole.
Man nutzt Techniken wie das automatische Schreiben und Malen, um an diese im Inneren versteckten Inhalte heranzukommen, die für die Surrealisten zur Lösung aller Probleme führen: „Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser bis heute vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allgewalt des Traums, an das absichtsfreie Spiel des Gedankens. Er zielt darauf hin, die anderen psychischen Mechanismen zu zerstören und ihre Stellung einzunehmen zur Lösung der wichtigsten Lebensprobleme“, heißt es im Manifest von Breton weiter. Er „glaube an die Auflösung der scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“
Der Traum als Spiegel des Unbewussten
In Belgien ist man anderer Meinung. Kurz nach Veröffentlichung der Schriften Bretons in Paris 1924 hatten sich die belgischen Schriftsteller Paul Nougé, Camille Goemans und Marcel Lecomte an das Verfassen der „Correspondance“ gemacht, die als insgesamt 22 Flugblätter im Abstand von jeweils zehn Tagen unter das Volk – das in diesem Fall in erster Linie aus Dichtern und bildenden Künstlern bestand – gebracht werden. Einige der Schriften finden ihren Weg bis in die Pariser Surrealistenkreise, wo man ihnen mit kühlem Respekt begegnet – zeitlebens sollte das Verhältnis zwischen den Künstlern in Brüssel und den Künstlern in Paris von dieser Mischung aus Anspannung und Hochachtung bestimmt sein.
Was nicht zuletzt daran gelegen haben mag, dass man in Brüssel nicht viel von der „Allmacht des Traums“ hielt, wie ihn Breton propagierte: In einer „Correspondance“ findet sich ein Text gegen die Auffassung des Traums als einer unbewussten Quelle, zu der man problemlos Zugang hat; denn versuche man, diesen Traum zu kommunizieren, greife man notwendigerweise ja doch wieder auf die Sprache oder das Bild zurück – was eben nicht „unmittelbar“, sondern organisiert geschehe.
Eine Flasche ist eine Flasche und kein Bauch
Während man in Paris davon überzeugt ist, die Traumwelten nicht erst durchdenken zu müssen, sondern sie unmittelbar und ausgereift bloß noch in ein Bild bzw. einen Text umsetzen zu müssen, ist man in Brüssel skeptisch. Auch Magritte wehrt sich gegen die Bezeichnung seiner Malereien aus 'traumhaft': „Im Hinblick auf meine Malerei wird das Wort ‚Traum’ oft missverständlich gebraucht. Meine Werke gehören nicht der Traumwelt an, im Gegenteil. Wenn es sich in diesem Zusammenhang um Träume handelt, sind diese sehr verschieden von jenen, die wir im Schlaf haben. Es sind eher selbstgewollte Träume, in denen nichts so vage ist wie die Gefühle, die man hat, wenn man sich in den Schlaf flüchtet. Träume, die nicht einschläfern, sondern aufwecken wollen", wird er zitiert – und dass, obwohl man gerade in seinen Malereien auf Symbole und Geschichten aus dem Unbewussten zu stoßen scheint. Doch für übermäßige Interpretationen seiner Bilder hat der adrette Mann mit Melone nur wenig übrig: „In meiner Malerei ist ein Vogel ein Vogel. Und eine Flasche ist eine Flasche und nicht etwa das Symbol für einen Bauch.“
René Magritte betritt 1926 die Bühne des belgischen Surrealismus, als er in der von dem Schriftsteller E.L.T Mesens herausgegebenen kritischen surrealistischen Kunstzeitschrift „Marie“ Texte und Illustrationen veröffentlicht und sich damit gleichzeitig endgültig vom Dadaismus verabschiedet. Zunächst war „Marie“ noch als Konkurrenz zu der „Correspondance“ erschienen, doch schnell freunden sich Nougé und Magritte an, gründen 1928 die Publikation „Distances“ - und werden zum Sprachrohr der Brüsseler Bewegung. Ebenso wie Magritte lehnt auch Nougé das automatische Schreiben ab und interessiert sich stärker für das Aufeinandertreffen von Wort und Bild. Viele Titel der Bilder Magrittes stammen aus Nougés Feder.
Magritte in Paris
Obwohl sich die surrealen Gemälde René Magrittes im Rückblick perfekt in die Bildwelten der Pariser Surrealisten einfügen, hat der Belgier es schwer, Zugang zum Kreise Bretons zu finden. Und obwohl dieser Magritte mit allerlei Aufgaben überhäuft, die man im Kreise der Surrealisten ohne Widerstand zu erfüllen hat, fordert er ihn weder auf, gemeinsam mit anderen Künstlern wichtige Traktate zu unterschreiben, noch erwähnt er ihn in seinem Buch „Der Surrealismus und die Malerei“, das 1928 erscheint.
René und Georgette Magritte, ein bürgerlich verheiratetes, skandalfreies Ehepaar, war den für ihren ausschweifenden Lebensstil bekannten Surrealisten verdächtig. Erst 1929 – Magritte und seine Frau leben seit zwei Jahren in Paris, Magritte hat bereits über 100 neue Bilder gemalt – schreibt er den Beitrag „Les Mots et les images“ („Die Wörter und die Bilder“), der in der hauseigenen Publikation „Die surrealistische Revolution“ veröffentlicht wird. André Breton und René Magritte begegnen sich mit Respekt, Breton kaufte sogar eines seiner Bilder - doch Freunde werden sie nicht.
Weniger exzessiv
Er könne niemanden ernst nehmen, der nichts für Musik übrig habe, wettert Magritte, nachdem Breton diese als snobistische Kunstform bezeichnet hatte. Während man in Paris gegen die Bourgeoisie rebelliert, Musik verachtet und die dunklen Seiten der Seele zu ergründen sucht, pflegt man in Brüssel einen eher spielerischen, weniger revolutionären und exzessiven Surrealismus mit dem Ziel, „die Wirklichkeit durch die Wirklichkeit selbst in Zweifel zu ziehen“. Und das tat man mit Schirm, Charme und Melone.
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