LYONEL FEININGER legte mit seinem Fahrrad Strecken von bis zu 60 Kilometern zurück. Heute verläuft die Feininger-Kulturroute durch zahlreiche Ortschaften südlich von Weimar und verbindet auf 30 Kilometern Länge viele seiner berühmten Motive. Was kann sie uns über den Künstler verraten?
Der 35-jährige Lyonel Feininger reiste erstmals 1906 ins Weimarer Land, wo er seine zukünftige Frau Julia Berg besuchen wollte. Sie studierte Kunst an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar, die als Ursprung der heutigen Bauhaus-Universität Weimar gilt. Bereits vor Feiningers Besuch berichtete Julia von den kleinen, pittoresken Dörfern, den mittelalterlichen Kirchtürmen und hügeligen Landschaften. Für den gebürtigen New Yorker, der mit 16 Jahren nach Deutschland zog, scheint diese Motivwelt von besonderem malerischem Reiz gewesen zu sein. Anfänglich noch zu Fuß, später zunehmend auf dem Rad, erkundete das junge Paar die Umgebung.
Das Fahrrad, wie wir es heute kennen, kam erst im späten 19. Jahrhundert auf den Markt und gewann seitdem kontinuierlich an Beliebtheit. Seine Entwicklung zum populären Fortbewegungsmittel wurde von Künstler*innen der Moderne begleitet, die das Rad als Motiv aufgriffen. Beispielsweise ließen sich die technikbegeisterten Futurist*innen in Italien oder Surrealist*innen wie Marcel Duchamp vom Fahrrad inspirieren. Auch im Oeuvre des Avantgarde-Künstlers Lyonel Feininger hat das Fahrrad einen festen Platz, etwa in seinen Werken „Die Velozipedisten“ von 1910 und „Radrennen (Die Radfahrer)" aus dem Jahr 1912. Beide Arbeiten vermitteln die Faszination für Geschwindigkeit, Mobilität und windschnittige Formen, die den damaligen Zeitgeist beherrschten.
Feininger legte mit seinem Fahrrad Strecken von bis zu 60 Kilometern zurück. Heute verläuft die sogenannte Feininger-Kulturroute, die als Radwanderweg, via PKW oder geführter Bustour erkundet werden kann, durch zahlreiche Ortschaften südlich von Weimar. Sie wurde 1999 von der Zeitzeugin ehemaliger Bauhäusler, Renate Böttcher, ins Leben gerufen und verbindet auf 30 Kilometern Länge berühmte Motive des Künstlers. Darunter die stattliche Dorfkirche von Niedergrunstedt oder der gedrungene Kirchturm mit einem Fachwerkgeschoss von Vollersroda. Aufsteller entlang des Weges zeigen Kopien von Feiningers Gemälden mit Motiven aus der Umgebung. Er malte diese jedoch nicht vor Ort. Im Freien entstanden zunächst viele Zeichnungen, seine sogenannten „Natur-Notizen", die später im Atelier ausgearbeitet wurden und als Inspiration dienten.
Ausgangspunkt: Die Bauhaus-Universität
Genau hier setzt die Erzählung der Feininger-Kulturroute an. Den Startpunkt markiert das Hauptgebäude der Bauhaus-Universität südlich vom Stadtzentrum. 1919 wurde Feininger dort als Formmeister an das neu gegründete Staatliche Bauhaus berufen, in dem nicht nur die Druckwerkstatt, sondern auch das Atelier des großen Künstlers seinen Platz hatte. Doch die Kulturroute führt noch tiefer in die Vergangenheit der Feiningers. Denn nur wenige Gehminuten entfernt lässt sich auch heute noch das Haus entdecken, in dem sich Julia Berg für ihr Studium 14 Jahre zuvor einquartierte. Nach seinem ersten Besuch der Stadt dauerte es nicht lange bis Feininger 1906 sein Atelier im selben Haus, nur ein Geschoss unter der Wohnung seiner Geliebten, bezog. In späteren Jahren kehrte er gelegentlich dorthin zurück, um sich auf die Suche nach all jenen Motiven zu begeben, die (wie die Kulturroute zeigt) auch heute noch tief in die Weimarer Umgebung eingeschrieben sind.
Von Oberweimar über Mellingen und Vollersroda
Über Oberweimar leitet die Kulturroute sodann nach Mellingen und Vollersroda. Während sich seine frühesten Zeichnungen von Mellingen auf 1911 zurückdatieren lassen, erkundete und zeichnete der zukünftige Bauhaus-Künstler Vollersroda bereits 1906 während seines ersten Aufenthaltes in Weimar. In den frühen Skizzen und Ölgemälden dieser thüringischen Dörfer spiegelt sich Feiningers Beruf als Karikaturist besonders eindringlich wieder. Schwungvoll, mit der geübten Hand einer Person, die bereits seit 1896/97 für verschiedenste Zeitschriften tätig war, hielt er die Charakteristika von Mellingen und Vollersroda fest und nutzte sie als Kulissen für schlaksig-kantige Figuren, wie sie etwa in „Vollersroda I“ von 1913 — aber auch in vielen seiner Karikaturen, die bis 1914 entstanden — vorzufinden sind.
Von Possendorf bis zum geliebten Gelmeroda
Das unübertroffene Lieblingsmotiv des großen Karikaturisten und Bauhaus-Künstlers offenbart sich jedoch erst zwei Stationen später: Über Possendorf führt der Radwanderweg südwestlich von Weimar nach Gelmeroda. Ein erstes Mal gesehen hatte Feininger den mittelalterlichen Kirchenbau des Weimarer Stadtteils 1906. Am 24. Juni desselben Jahres verewigte er erstmals die unscheinbare Kirche mit ihrem überraschend hohen und spitzzulaufenden Kirchturm, die heute als Autobahnkirche fungiert. In den kommenden Jahrzehnten wird sie eine fortwährende Anziehungskraft auf den Künstler ausüben. Feininger hielt sie in den folgenden 50 Jahren in insgesamt 40 Zeichnungen und Aquarellen, unzähligen Skizzen, einer Radierung, einer Lithografie sowie 14 Holzschnitten fest. Darüber hinaus entstanden zehn große Gemälde — fünf davon sind ab dem 27. Oktober in der SCHIRN zu sehen. Die Kuratorin der baldigen Feininger-Retrospektive, Dr. Ingrid Pfeiffer, ist davon überzeugt, dass die Gelmeroda-Serie wie keine andere im Oeuvre des Künstlers Rückschlüsse auf seine künstlerische Praxis und Weiterentwicklung zulässt. Man könne ihm „praktisch beim Denken und Komponieren zusehen“.
Schon die frühen Gelmeroda-Bilder bestätigen diesen Eindruck. Feiningers „Gelmeroder Kirche“ von 1910 erscheint mit ihrer märchenhaften Kulisse und den kantigen, langgezogenen Figuren — wie schon die zuvor erwähnten Darstellungen von Mellingen und Vollersroda — im Geiste des Karikaturisten entstanden zu sein. Nur drei Jahre später malte er „Gelmeroda II“ und „Gelmeroda III“ hingegen auf ganz andere Weise: Während seines Aufenthalts in Paris 1911 sah Feininger in einer Ausstellung im Salon des Indépendants erstmals Werke des Kubismus. Sie eröffneten ihm einen neuen Zugang zur Malerei, der in den beiden Ölgemälden von 1913 offenkundig wird. Als hätte er die Kirche im zersprungenen Spiegel gesehen oder aus verschiedenen Blickwinkeln zeitgleich aufgenommen, de- und rekonstruiert Feininger das Motiv auf seiner Leinwand in kristalline Formen.
Endstation: Das Eigenheim in Weimar
Den baugeschichtlich wertvollsten Kirchenbau entdeckte der Künstler derweil in der Nachbarschaft von Gelmeroda. In Niedergrunstedt steht die Dorfkirche St. Mauritius, deren Wurzeln bis in die Epoche der Romanik zurückreichen. Feininger schenkte ihr jedoch verhältnismäßig wenig Beachtung. Nur eine Radierung und fünf Gemälde sind von ihr bekannt, darunter die „Kirche von Niedergrunstedt“ von 1919. Anders als noch in „Gelmeroda II-III“ wendete der Bauhaus-Künstler die kubistischen Prinzipien hier ungleich viel radikaler an, wodurch die Kirche kaum mehr zu erkennen ist. Fast so, als habe sie der Künstler in den wenigen mit ihr existierenden Werken direkt wieder zum Verschwinden bringen wollen.
Von Niedergrunstedt führt die Feininger-Kulturroute zurück in den Südwesten von Weimar. Dort findet die Feininger-Spurensuche ihren Abschluss im Privaten: Das ehemalige Wohnhaus der Familie Feininger in der Gutenbergstraße 16 existiert noch immer und erinnert heute mit einer Gedenktafel an seinen berühmten einstigen Bewohner. Man stelle sich vor, wie Feininger nach einem langen Tag des Wanderns oder Radfahrens hier einkehrte und die Auenlandschaften und Kirchbauten vor seinem inneren Auge Revue passieren ließ. Eine Einladung es ihm gleich zu tun...