Was verbinden Jugendliche mit dem Namen LYONEL FEININGER und wie sehen von ihm inspirierte Werke aus? Im SCHIRN DOMINO-Projekt treffen Schüler*innen auf Werke des großen Künstlers und fertigen eigene Arbeiten an.

Alexa, Marianna und Taras, die Schüler*innen der Deutsch-Intensivklasse des Frankfurter Lessing-Gymnasiums, sind in ihr kreatives Schaffen vertieft. Sie haben aus farbigem Transparentpapier großformatige Collagen gestaltet, die Gebäude oder geometrische Formen darstellen. Nun sind diese Werke fertig und die Jugendlichen sollen die dargestellten Motive in dreidimensionale Strukturen übertragen – eine anspruchsvolle Aufgabe. Als Material dienen ihnen dafür verschiedenförmige Holzklötze. Aus diesen setzen Alexa, Marianna und Taras sowie ihre Mitschüler*innen Bauwerke zusammen. Ein moderner Wolkenkratzer, ein Turm, ein in die Länge gezogenes Bahnhofsgebäude oder ein Wohnhaus für eine große Familie – inspiriert wurden die Jugendlichen dabei von den Gebäuden, die sie aus ihrem Alltag kennen, aber auch von der Kunst Lyonel Feiningers, die sie in der SCHIRN gesehen haben.

Insgesamt fünf Jugendgruppen tauchten in die vielfältige Kunstwelt von Feininger ein. Den Rahmen dafür schuf SCHIRN DOMINO, ein kunstpädagogisches Projekt in Zusammenarbeit mit Jugendeinrichtungen und Intensivklassen für Jugendliche mit Flucht- und Migrationshintergrund in und um Frankfurt. Es wurde 2011 ins Leben gerufen und richtet sich an junge Menschen im Alter von 13 bis 17 Jahren. Zuerst besuchen die Teilnehmer*innen eine aktuelle Ausstellung der SCHIRN, wie „Lyonel Feininger. Retrospektive“. Im nächsten Schritt stellen sie in ihren Jugendzentren und Schulen eigene Arbeiten zu verschiedenen Themen der Ausstellung her. Unterstützt werden sie dabei durch eine*n Kunstpädagog*in der SCHIRN. Den Abschluss des Projekts bildet die Präsentation der entstandenen Werke in der Kunsthalle.

Taras, Foto: Dirk Ostermeier
Marianna und Alexa, Foto: Dirk Ostermeier
Von Feininger inspiriert 

Im Rahmen der jüngsten SCHIRN DOMINO-Ausgabe sahen die teilnehmenden Jugendlichen fremdartige Figuren, fantasievolle Städteansichten, Architekturbilder, Fotografien, eine ganze Stadt aus Holz und vieles mehr – alles kreiert vom deutsch-US-amerikanischen Künstler Lyonel Feininger. Während ihres Ausstellungsbesuchs und den später folgenden Projekt-Workshops sprachen sie inspiriert über Themen wie Selbstdarstellung und Identität, Wahrnehmung von Architektur, das Verlassen der Heimat und die Rolle von Erinnerungen. Zugleich experimentierten sie mit verschiedenen Materialien und gestalteten Werke, in denen sie ihre persönlichen Erfahrungen und Ideen zum Ausdruck brachten. Etwa Collagen aus Transparentpapier. Angeregt wurden sie dabei durch die Architekturdarstellungen Feiningers. Insbesondere Dörfer und mittelalterliche Kirchen dienten dem Künstler lebenslang als Inspirationsquelle für zahlreiche Werke. Ungewöhnlich und spannend fanden die Jugendlichen die Darstellungen von Gebäuden, die aus sich überlagernden, rhythmisch angeordneten Flächen bestehen. Die Anordnung dieser Flächen sowie die Farbnuancen lassen den Eindruck entstehen, dass der Künstler die Bewegung des Lichtes malerisch festhielt. Die Jugendlichen ersetzen die flüssigen Farben durch Transparentpapier, das zu verschiedenen Formen zerschnitten und übereinander geklebt wurde, um so einen Effekt der Farbüberlagerung zu erzeugen.

Als Inspirationsquelle für eine weitere Werkreihe dienten ihnen fantasievolle Figuren und Gebäude aus Holz, die Feininger ab 1919 für seine drei Söhne schnitzte und bemalte. Diese spielerische Schöpfung nannte der Künstler „Die Stadt am Ende der Welt“. Als Vorläufer diente ihm seine gleichnamige Gouache aus dem Jahr 1910. Die Jugendlichen nutzten das Motiv aus ihren Collagen und übertrugen es mithilfe verschiedener Holzelemente, die mit Schleifpapier bearbeitet, aneinandergeklebt und anschließend mit Gouachefarben bemalt wurden, in den dreidimensionalen Raum.

Lyonel Feininger, Gelmeroda VIII, 1921, Öl auf Leinwand, 100,3 x 80,3 cm, Whitney Museum of American Art, New York; Erwerb 53.38a-b, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Lyonel Feininger. Retrospektive, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Das SCHIRN MAG besuchte die Schüler*innen des Lessing-Gymnasiums während einer dieser Workshops und unterhielt sich mit Alexa (16), Marianna (16) und Taras (17) über ihre Werke und Gedanken zur Kunst. Alle drei Jugendlichen sind während des Krieges aus der Ukraine geflüchtet und leben jetzt in Frankfurt.

Hochhäuser, die nach oben streben und nach oben ziehen

Von ihrem Ausstellungsbesuch in der SCHIRN ist Alexa vor allem das Spätwerk Feiningers in Erinnerung geblieben, das er im US-amerikanischen Exil malte. Die New Yorker Gemälde aus dieser Zeit zeigen typische Straßenschluchten und Hochhausfassaden. Sie inspirierten Alexa dazu, für ihre Collage und Holzarbeit ebenfalls das Motiv des Wolkenkratzers aufzugreifen. Ihre Gründe dafür sind vielfältig: Sie erzählt, dass sie die Hochhäuser mit ihrer Heimatstadt Kiew verbinde – der Hauptstadt der Ukraine - aber auch mit der Frankfurter Skyline. Der Wolkenkratzer mit den hell beleuchteten Fenstern auf ihrer Collage stehe ganz in der Nähe von dem Gebäude, in dem sie jetzt lebe. Doch neben den Erinnerungen aus der Vergangenheit und jüngsten Gegenwart gefallen ihr die Hochhäuser auch, weil sie die Wolken förmlich berühren würden; „Sie ziehen nach oben und motivieren dich, genauso in die Höhe zu streben.“

Alexa, PROJEKT SCHIRN DOMINO zu LYONEL FEININGER, Abschlusspräsentation © Schirn Kunsthalle Frankfurt, Foto: Dirk Ostermeier

Auch Marianna sind Feiningers Gemälde von Manhattan mit ihrer Skyline am stärksten im Gedächtnis geblieben. Trotzdem entschied sie sich für ihre Collage für ein anderes Motiv: Die verschieden farbigen Transparentpapiere fügte sie zu einem abstrakten Ensemble zusammen, das – ohne, dass sie es bewusst zitiert hätte – an Feiningers „Glasscherbenbild“ von 1927 erinnert. Feininger hatte mittels bunter Glasscherben mit Licht experimentiert und auch Marianna betont, dass die Transparenz des Papiers sie dazu animiert habe, mit Farben und Licht zu spielen.

Taras hingegen erinnert sich neben der bedeutenden Gelmeroda-Serie von Lyonel Feininger, die ihm wegen der Vielfältigkeit der Darstellungsweisen so gut gefallen hat, besonders an Feiningers Ölgemälde von Schiffen. Mit ihren hellen, geradezu strahlenden, Segeln zogen sie ihn direkt in ihren Bann. Die Arbeit mit der Collagetechnik hat ihm viel Spaß gemacht und zu einem zweiteiligen Werk inspiriert. Während die eine Hälfe der Collage ein abstrahiertes Fantasiehaus auf einem Planeten zeigt, das Taras im Geiste von Feininger in unterschiedliche Farbflächen zerlegte, ziert die zweite Hälfte ein Baum auf der weit entfernten Erde, dessen Krone über und über mit rosa- und pinkfarbenen Papierschnipseln beklebt ist und an Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ denken lässt.

Ein Wohnhaus für die ganze Familie

Die Collage für die weitere Werkserie in eine dreidimensionale Struktur aus Holz zu übertragen, empfanden die Jugendlichen zunächst als Herausforderung. Während Alexa sich für ihre Holzarbeit stärker vom Originalmotiv entfernte und die Spitzen der Hochhäuser nach links versetzte, verband Marianna das Scherbenmotiv ihrer Collage mit den Impressionen von Wolkenkratzern aus der Ausstellung – die abstrakten Formen finden sich in der Holzarbeit als Teil einer Hochhauskonstruktion wieder. Es sei wie ein Puzzle gewesen, beschreibt sie den Arbeitsprozess. Angeregt durch die Architekturen Feiningers habe sie sich gefragt, welche Gebäude ihr in Frankfurt gefallen. Die Antwort darauf, waren die Hochhäuser. Auch Taras griff für die Holzarbeit das Motiv des Hauses auf, doch wichtiger als die Höhe der Häuser ist ihm die Funktion: Es sei ein Wohnhaus für die ganze Familie, für seine Eltern und fünf Geschwister, das er in der Holzstruktur umgesetzt habe, erzählt er.

Taras, Foto: Dirk Ostermeier
Marianna, PROJEKT SCHIRN DOMINO zu LYONEL FEININGER, Abschlusspräsentation © Schirn Kunsthalle Frankfurt, Foto: Dirk Ostermeier

Neben der Auseinandersetzung mit Architektur schauten sich die Jugendlichen in der Ausstellung auch Feiningers Selbstbildnisse sowie einige in der Technik des Holzschnitts hergestellten Blätter an. In den Workshops, die nach dem Gespräch mit SCHIRN MAG folgten, widmeten sie sich in Anlehnung an Feininger der Selbstdarstellung und setzen diese via Holzschnitt um. Sie überlegten, wie sich der eigene Charakter mit wenigen reduzierten Linien wiedergeben lässt, bearbeiteten quadratische Holzplatten mit Schnitzwerkzeugen und druckten ihre Motive schließlich auf Papier.    

Neue Zugänge zur Sprache

Durch das Projekt lernten die Jugendlichen die Grundlagen des künstlerischen Arbeitens von der Entwicklung einer Idee bis hin zur Präsentation der eigenen Werke kennen. Die Schüler*innen aus den Intensivklassen beschäftigten sich zudem mit verschiedenen sprachdidaktischen Aufgaben und lernten neue Wörter und Ausdrücke, mit dem Ziel, über Kunst und die Themen der Ausstellung zu sprechen und ihre allgemeinen Sprachkenntnisse zu verbessern. Die Verbindung von künstlerischer und sprachdidaktischer Arbeit soll jungen Menschen neue thematische Zugänge zur Sprache jenseits ihres alltäglichen oder schulischen Gebrauchs eröffnen. Dass dies tatsächlich Früchte tragen kann, belegt das Gespräch mit Taras, Alexa und Marianna. Nach der ersten Assoziation gefragt, die sie mit Lyonel Feininger heute verbinden, antworten sie mit Begriffen, die wohl auch manche Kunsthistoriker*innen verwendet hätten: künstlerische Freiheit, schöne Farben, Werke, die wie aus Kristallen gemacht erscheinen, lichtdurchflutete Gebäude und erhabene Bilder von Architektur und Natur.


 

PROJEKT SCHIRN DOMINO zu LYONEL FEININGER, Abschlusspräsentation © Schirn Kunsthalle Frankfurt, Foto: Dirk Ostermeier
PROJEKT SCHIRN DOMINO zu LYONEL FEININGER, Abschlusspräsentation © Schirn Kunsthalle Frankfurt, Foto: Dirk Ostermeier

LYONEL FEININ­GER. RETRO­SPEK­TIVE

27. Oktober 2023 – 18. Februar 2024

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