Die Harvard Art Museums beherbergen die größte Lyonel-Feininger-Sammlung der Welt. Ihre Direktorinnen Lynette Roth und Laura Muir sprechen über Feiningers Fotografien und verraten, welche Aspekte seines vielseitigen Werks in der Forschung auch heute noch unterrepräsentiert sind.
Lyonel Feininger ist im New York der 1870er-Jahre geboren und aufgewachsen. Im Alter von 16 Jahren zog er nach Deutschland, ursprünglich um Musiker zu werden, doch fiel die Entscheidung schnell, sich stattdessen an der Allgemeinen Gewerbeschule und Schule für Bauhandwerker in Hamburg einzuschreiben. Bald schon folgten weitere Einschreibungen an Kunstschulen in Berlin und Paris, bevor er 1896/97 seine Tätigkeit als professioneller Karikaturist und Illustrator für deutsche und amerikanische Zeitungen aufnahm. Zeitgleich widmete er sich privat seinen Zeichnungen und Gemälden, die ihm 1917 zu einer ersten Einzelausstellung in der Berliner Galerie Der Sturm verhalfen.
Als Walter Gropius 1919 das Staatliche Bauhaus zu Weimar gründete, war es dann Feininger, der von ihm zum allerersten Bauhaus-Meister berufen wurde und in der Folge das Titelbild des offiziellen Bauhaus-Manifestes gestaltete: ein expressionistischer Holzschnittdruck einer Kathedrale. Bis die Schule 1933 auf Druck der NS-Diktatur zum Schließen gezwungen wurde, leitete er die Druckwerkstätten. Doch nachdem die Nationalsozialisten seine Kunst als „entartet“ deklarierten, mussten Feininger und seine Familie Deutschland 1937 endgültig verlassen. Sie zogen zurück nach New York. Mit Hilfe von Feiningers Bauhaus-Schüler Hermann Klumpp war es ihnen möglich, viele seiner Werke mit in die USA zu nehmen, während seine Söhne in den 1970er-Jahren eine Rückgabe der in Deutschland verblieben Arbeiten erwirken konnten. Bis heute verwalten die Harvard Art Museums als größte Lyonel-Feininger-Sammlung der Welt die Mehrheit jener Werke.
Feininger selbst war also in den Sammlungsaufbau in Harvard involviert?
Lynette Roth: „Ja, nachdem er in die USA zurückgekehrt war.“
Laura Muir: „Das kam einerseits durch Walter Gropius, da die Feiningers viel Zeit in seinem Haus in Lincoln verbracht haben und andererseits durch ihren Sohn T. Lux, der für Harvard in den 1950er- und 60er-Jahren als Lehrer für Malerei und Zeichnungen tätig war. Lux hatte somit selbst eine enge Verbindung zu Charles Kuhn und dem Museum.“
Ich verstehe, das ergibt Sinn. Lassen Sie uns zu etwas anderem kommen: Können Sie mir beide einen Fun Fact über Feininger erzählen? Vielleicht Etwas, das Sie in der Auseinandersetzung mit seinem Oeuvre überrascht hat?
Lynette Roth: „Bevor ich Laura kennen gelernt habe, waren das für mich die Fotografien. Als ich hier 2011 am Museum angefangen habe, war das genau, als die Ausstellung „Lyonel Feininger Fotografien 1928-1939“ stattfand. Ich war gerade mal ein paar Wochen im Job, als wir die zweite Station der Ausstellung in Berlin eröffnet haben und Leute zu mir kamen, die wissen wollten, wie es war, diese Fotografien zu entdecken. Ich würde sagen, dass die Fotografien selbst heute noch ziemlich unbekannt sind. Sie sind immer noch eine Überraschung für alle, die nicht hier in Cambridge sind oder sie bei der Ausstellung damals gesehen haben.“
Laura Muir: „Für mich ist es immer wieder verblüffend, wie vielfältig er in seinem Schaffen war. Ich liebe diese frühen Arbeiten, die Cartoons. Wir haben ein paar der „Wee Willie Winkie’s World“-Ausgaben da drüben (deutet auf die rechte Ecke des Raumes). Dann machte er eine absolute Kehrtwende und fing an, ein ernstzunehmender Maler zu werden. Im nächsten Moment interessierte er sich für Holzschnitte und wie aus dem Nichts begann er plötzlich auch noch zu fotografieren. Das blieb dann ein Interessengebiet für den Rest seines Lebens. Und dann die Dias! Er fing an, Fotos auf Diafilm aufzunehmen und ab einem bestimmten Punkt auch in ihrem Apartment in New York City an die Wände zu projizieren. Das ist ein Bereich seiner Arbeit, der noch viel mehr erforscht werden könnte, wir haben hier 4000 Dias in unserer Sammlung…“
Lynette Roth: „Die Dias sind auch in der Ausstellung in der SCHIRN! Ich habe bei der Eröffnung die Leute beobachtet die, obwohl es wirklich sehr voll war, mitten im Raum stehen geblieben sind und wie gebannt die Wandprojektionen betrachtet haben. Außerdem gibt es da ja auch noch seine späten Arbeiten… Wenn ich so darüber nachdenke, möchte ich meine Antwort auf deine Frage ändern, und zwar von den Fotografien auf die Arbeiten, die er gemacht hat, nachdem er in die USA zurückkehren musste. Mein Wissen über Feininger war vor allem von meiner Zeit in Deutschland und den deutschen Sammlungen geprägt, die sich größtenteils auf Feiningers Arbeiten aus den 1920er-Jahren, vorwiegend aus den Bauhaus-Jahren, konzentrieren. Erst als ich hier am Museum ankam, habe ich zum ersten Mal seine späten Gemälde gesehen. Vielfältigkeit bekommt da eine ganz neue Bedeutung: Die Art und Weise, wie er die Oberflächen bearbeitete, ist komplett anders. Er schabte förmlich in die Farbe hinein. Diese Arbeiten haben eine Textur, eine Art haptische Qualität. Und gleichzeitig haben sie immer noch diese Leichtigkeit, die seinen frühen Arbeiten innewohnt. Man kann deutlich erkennen, dass das Feininger ist, aber die Behandlung der Leinwand hat sich völlig verändert! Es war eine große Veränderung für die Familie, in die USA zurückzukehren. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis er wieder angefangen hat, kreativ zu sein, aber als er endlich zur Malerei zurückgefunden hat, war da etwas ganz und gar anders in seinen Arbeiten. Und die New York Wolkenkratzer sind einfach fantastisch! Es ist so toll, dass auch sie in der Ausstellung in Frankfurt zu sehen sind, denn ich glaube nicht, dass sie vielen Leute bis dato bekannt waren.“
Laura Muir: „Sein Spätwerk ist definitiv eng verbunden mit diesem traumatischen Einschnitt in seiner Biografie. In die Vereinigten Staaten zurückkommen zu müssen und in seinen 60ern sein ganzes Leben entwurzeln und wieder aufbauen zu müssen, war hart… Obwohl ihm die Dinge gewissermaßen vertraut waren, da er in seine Heimatstadt zurückkehrte, waren doch etliche Jahre vergangen, seitdem er das letzte Mal in New York gewesen ist. Alles hatte sich verändert. Für mich ist es das Medium der Fotografie, das ihm geholfen hat, seinen Weg zurück in die Kreation von Kunst zu finden. Die Fotografien, Zeichnungen und Gemälde aus dieser Zeit sind alle auf eine interessante Art miteinander verwoben.“
Ich habe ein Zitat von Feininger gelesen, das beschreibt, wie er das New York der Pferdewagen verlassen hat und zu einem New York voller Autos und Zügen zurückgekehrt ist. Das muss ein totaler Schock gewesen sein, der Ort, an den er sich aus seinen Teenagejahren erinnert, ist verschwunden…
Laura Muir: „Ja genau! Ich liebe diese Bilder, Zeichnungen und später dann Fotografien, die er sein ganzes Leben aus den Fenstern seiner Studios gemacht hat, um die Welt um ihn herum einzufangen. So wie hier (sie zeigt auf eine Farbfotografie), da schaut er von oben herunter auf diese Kreuzung mit Autos und Bussen. Das war, nachdem sie das Hochbahnnetz abgebaut hatten. Diesen vertrauten Ort zu sehen, der jetzt so unbekannt erscheint – ich denke, dass das produktiv für ihn war, aber eben auch verwirrend.“
Als ich gestern bei Ihnen im digitalen Archiv gestöbert habe, habe ich eine dieser Fotografien gesehen und im ersten Moment gedacht, dass das Spielzeugautos sind…
Lynette Roth: „Ja, und das ist besonders lustig, wenn man an die von Feininger gestalteten Spielzeuge denkt…“
Laura Muir: „Ach ja, die Spielzeuge! Die sind ja auch nochmal was ganz anderes.“
Die habe ich gestern auch zum ersten Mal gesehen und gedacht: Wow, Spielzeuge hat er auch gemacht?
Lynette Roth: „Ja und auch die sind absolut einzigartig installiert in Frankfurt mit ihrem eigenen Glaskasten.“
Ich finde den Titel so toll: „Die Stadt am Rande der Welt“. Märchenhaft und ein bisschen traurig. Hat er davon nicht auch Fotos gemacht?“
Laura Muir: „Hat er! Seine ganze Herangehensweise an Spielzeug, Kindheit und Fantasie zeigt sich in seinen frühen Werken wie den Comicstrips, aber auch in späteren Werken wie diesem hier (Laura steht auf – wir tun es ihr gleich – und geht auf ein blau-weißes Aquarell mit Tintenzeichnungen von weiblichen Figuren zu, das „Feux Follet“ heißt). Das ist aus den 1940er-Jahren und hat den gleichen spielerischen, figurativen Aspekt. Es zählt zu jenen Werken, die von Fotografien mit Schaufensterpuppen inspiriert sind.“
Lynette schlendert weiter an den Arbeiten entlang, die an den Außenwänden des Raumes aufgestellt sind.
Lynette Roth: „Wie Laura schon gesagt hat: Er brilliert einfach in jedem Medium, das er sich aussucht. Stellen Sie sich vor, Sie leiten ein Seminar und versuchen, die Entwicklung eines Künstlers zu erklären – und das von hier (deutet auf einen Cartoonstrip,) zu hier (deutet auf einen Holzschnitt), zu hier (deutet auf ein „Ghostie“ aus den 1950er-Jahren). Wir können zwar wegen ihrer Lichtempfindlichkeit keine Papierarbeiten in der permanenten Sammlung zeigen, dennoch ziehen sich seine Gemälde durch eine Vielzahl der Museumsräume. Zwei seiner Bilder, die jetzt in Frankfurt sind, „The Bathers“ und „Avenue of Trees“, hängen normalerweise in unserer Kubismus-Abteilung, um zu zeigen, von wo er seine Impulse erhielt und wie unterschiedlich seine Arbeiten zugleich von dieser Kunstrichtung sind. Und dann sind zwei unserer bekanntesten Werke von Feininger in der Bauhausgalerie. Er ist einer dieser Künstler, den man aufgrund der Vielfältigkeit der Sammlung durch fast alle Galerien nachverfolgen kann. Und nachdem wir jetzt seine späten Arbeiten für die Ausstellung in Frankfurt gerahmt haben, können wir Feininger auch an die Nachkriegsgalerien vermitteln!
Laura Muir: „Der Spaß an einem solchen Archiv ist ja, dass man einen roten Faden ziehen kann. Die „Vogelwolken“-Sequenz hier ist ein tolles Beispiel dafür. Sie ist ein super Hilfswerkzeug in der Lehre, um den Schaffensprozess des Künstlers zu veranschaulichen. Das hier ist die Original-Naturnotiz (so nannte Feininger seine Zeichnungen): Er skizzierte sie am 6. August, entwickelte sie weiter über den 8. und 9. August und dann, zwei Jahre später, malte er das Bild „Bird Cloud“, das jetzt unten in unserer Galerie hängt. Er veränderte es allerdings beträchtlich: das „Bird Cloud“-Gemälde hat diesen deutlichen Horizont und nicht diese Entwicklung in die Ferne, wie die Naturnotiz. Doch obwohl er diese eindeutigen Veränderungen vornimmt, ist die Vogelwolkenform immer noch klar erkennbar.
Man erkennt eine richtige Evolution von einem Medium ins nächste. Und sieht, dass er sich die Zeit genommen hat, etwas ruhen zu lassen. Zwei Jahre ist eine lange Zeit, um eine Zeichnung weiterzuentwickeln…
Laura Muir: „Das hat er andauernd gemacht. Er hat 5000 dieser Zeichnungen angefertigt und ist über die Jahre immer wieder zu ihnen zurückgekehrt. Schauen Sie sich zum Beispiel diese Zeichnung hier an, sie ist später die Blaupause für „The Bathers“, die jetzt in der SCHIRN ausgestellt sind. Sie können sehen, dass die Badeanzüge ähnlich sind, hier der orangene und da links der gestreifte. Auch die Komposition ist ähnlich mit den Badenden in Vordergrund und den Boten im Hintergrund, aber der Stil hat sich drastisch verändert.“
Lynette Roth: „OK, sollen wir dann mal runter gehen und uns die Bilder von ihm anschauen, die wir aktuell noch in unseren Galerien haben?“
Ich greife mir meinen Notizblock und mein Handy und wir machen uns auf die Suche nach den letzten zwei Gemälden, die noch in den Harvard Art Museums residieren, während die meisten in der aktuellen Retrospektive in Frankfurt zu sehen sind. Wir durchqueren den beeindruckenden Innenhof, der von Besucher*innen bevölkert ist, die von unten hoch in die Galerien bis zum Glasdach gucken. Jedes Stockwerk unterscheidet sich ein bisschen von den anderen. Von Säulen aus der Alten Welt bis hin zur Pigmentbibliothek kann das Auge an Millionen von Dingen hängen bleiben. Als wir endlich in der vom Bauhaus inspirierten Ecke des Museums ankommen, schießt Lynette direkt auf „Bird Cloud“ zu. Es ist nicht das größte Gemälde im Raum, aber die einsame Figur am unteren linken Bildrand zieht mich magisch an, sobald das Bild in mein Blickfeld kommt. Nachdem ich die Naturnotiz und die nachfolgenden Aquarelle gesehen habe, ist es faszinierend, endlich das finale Bild mit seinen vereinfachten, zersplitterten Formen zu sehen, die Feininger selbst als „Prismaismus“ bezeichnete. Und es ist ganz so, wie Lynette gesagt hat: Er hat es stark verändert, aber die Vogelwolkenform ist immer noch deutlich zu erkennen.