Der deutsch-amerikanische Künstler Lyonel Feininger (1871–1956) ist ein Klassiker der modernen Kunst. Die SCHIRN widmet dem bedeutenden Maler und Grafiker die erste große Retrospektive in Deutschland seit über 25 Jahren und zeichnet ein umfassendes und überraschendes Gesamtbild seines Schaffens.
Nachdem LYONEL FEININGER 1887 aus New York nach Deutschland gekommen war, um in Leipzig Musik zu studieren, entschied er sich schließlich für das Studium der bildenden Künste an der Hochschule in Berlin. Erste Erfolge hatte er hier als einer der führenden Karikaturisten und Illustratoren mit Zeichnungen, die seinen besonderen Sinn für Humor erkennen lassen. Für verschiedene Satirezeitschriften und Zeitungen wie „Ulk“ oder „Lustige Blätter“ fertigte er ab 1896 Zeichnungen an und entwickelte für die „Chicago Sunday Tribune“ die Comic-Serien „The Kin-der-Kids“ und „Wee Willie Winkie’s World“ (1906). Auch sein frühes malerisches Werk war figürlich geprägt. Während eines Aufenthalts in Paris entstanden zwischen 1907 und 1911 die sogenannten Karnevals- oder „Mummenschanzbilder“ in einer charakteristischen Farbpalette mit gedämpften Rosés, giftigem Gelb, Nachtblau und Türkis-Grün. Es sind oft isoliert erscheinende, typenhafte Figuren in dramatisch-träumerischen Szenen – Arbeiter, Geistliche, Kinder, Frauen und Männer mit überlangen Gliedmaßen und in extravaganter, aus der Zeit gefallener Mode.
Dynamische Bewegungen und kristalline Architekturen
Seine berühmten kristallinen Architekturserien, die bis heute seine bekannteste Werkgruppe bilden, entwickelte Feininger während des Ersten Weltkriegs bis in die 1920er-Jahre. Durch die prismatische Überlagerung der Flächen, die an die Wanderung des Tageslichts erinnert, erhielten die Bilder ein Zeitelement, während die Transparenz geistige Klarheit und Spiritualität verkörpert. Einflussreich für diese Entwicklung war Feiningers Auseinandersetzung mit dem Kubismus, insbesondere mit den lichtdurchfluteten und dynamischen Werken Robert Delaunays, sowie mit den italienischen Futuristen, die sich in seinem Hauptwerk „Die Radfahrer (Radrennen)“ (1912) niederschlug. Feininger legte in seinen prismatisch aufgebrochenen und monumentalen Architekturen besonderen Wert auf einen expressionistischen, innerlich geformten Ausdruck. Statt der Zergliederung und Mehransichtigkeit eines Gegenstandes strebte er nach Konzentration bis ins absolute Extrem. Feininger, der auch Musiker war und selbst komponierte, verglich seine Malerei mit der „Synthese der Fuge“, in der Harmonie und Dissonanz ebenso wie Formstrenge und Rhythmik ihren Platz finden.
Sakralbauten in Holzschnitten und Gemälden
Bis heute gilt Feininger als einer der bedeutendsten Holzschnittmeister des 20. Jahrhunderts. In einem Zeitraum von nur drei Jahren entstanden zwischen 1918 und 1920 die meisten seiner rund 320 Holzschnitte, darunter die ikonische „Kathedrale“ (1919), die auf dem Titelblatt des „Manifest und Programm des staatlichen Bauhauses in Weimar“ (1919) abgedruckt ist. 1919 hatte Walter Gropius Feininger als einen der ersten Meister ans Bauhaus berufen, 1921 wurde er dort künstlerischer Direktor der Grafischen Werkstatt. Die SCHIRN zeigt aus Feiningers umfassendem grafischen Schaffen außerdem Zeichnungen, Radierungen und Lithografien.
Die Ausstellung versammelt zudem eine eindrucksvolle Serie von fünf Gemälden aus verschiedenen Phasen von Feiningers umfassender Werkserie „Gelmeroda“ (1913–1955), an der er rund 40 Jahre lang immer wieder arbeitete, dazu eine Zeichnung, mehrere Holzschnitte und eine Lithografie. An ihr lässt sich besonders Feiningers Begeisterung für historisch gewachsene, romantische Architektur nachvollziehen. Seine Entwicklung ist dabei keineswegs linear und umfasst kristallin-expressionistische und bewegte Versionen wie „Gelmeroda II“ (1913) und zugleich majestätische Darstellungen mit nach oben strebendem Grundmotiv in kühlem Blaugrün wie in „Gelmeroda VIII“ (1921). Eine ebenfalls intensive künstlerische Auseinandersetzung verfolgte Feininger mit der durch Altstadthäuser und mächtige Sakralbauten geprägten Stadt Halle.
Feininger setzte sich Ende der 1920er-Jahre auch verstärkt mit Fotografie auseinander, obwohl er dem Medium lange kritisch gegenüberstand, und hinterließ ein vor Kurzem wiederentdecktes Konvolut von insgesamt rund 20.000 Foto-Objekten. Die SCHIRN zeigt Fotografien und Diapositive des Künstlers, die zentrale Motive wie (Schaufenster-)Figuren, Lokomotiven und Architektur aufgreifen. Das Bauhaus in Dessau fotografierte er nachts in geheimnisvollem Licht, anders als jede andere Bauhaus-Fotografie. Das Medium diente Feininger als weiteres Experimentierfeld für Bildeffekte wie Hell-Dunkel-Kontraste, Schatten und Formspiele sowie Unschärfen, die an rhythmisierende Elemente in seinen Gemälden erinnern.
SEESTÜCK
Ein wiederkehrendes Thema in Feiningers Werk sind die Seestücke. Schon als Kind in New York hatten ihn die Dampfer und Segelboote auf dem Hudson River fasziniert, und in Deutschland boten ihm die jährlichen Aufenthalte an der Ostsee Anregungen für weitere Motive. Neben fast abstrakten Strandbildern mit puppenartigen Figuren und kubistisch zerlegten Flächen wie „Badende (am Strand)“ (1912) entstanden dramatische mystische Gemälde wie „Odin. Leviathan“ (1917). Die menschenleeren, transparenten Seebilder, die er ab den 1920er-Jahren bis ins Spätwerk in den USA malte, stellen neben den kristallinen Architekturen Feiningers zweite bekannte Werkgruppe dar. Ähnlich wie in den Kirchenbildern suchte er hier in der Natur nach Metaphern für innerliche Erfahrungen mit Referenzen zur Romantik. Geheimnisvolle Leere, Einsamkeit, subtile Erlebnisse mit Licht, Raum und Wolken sind wiederkehrende Themen wie in „Stiller Tag am Meer III“ (1929) oder „Dünen am Abend“ (1936), die an Caspar David Friedrichs Gemälde „Mönch am Meer“ (1808-1810) oder William Turners Seebilder erinnern.
Spätwerk im US-amerikanischen Exil
Kontinuität und gegenläufige Tendenzen setzen sich in Feiningers Spätwerk fort. 1937 floh der Künstler mit seiner jüdischen Ehefrau Julia nach fast 50 Jahren aus dem nationalsozialistischen Deutschland ins US-amerikanische Exil. Seine Kunst wurde in der Ausstellung „Entartete Kunst“ öffentlich diffamiert und über 400 Werke wurden aus öffentlichen Sammlungen konfisziert. In New York gelang Feininger nach zwei Jahren die Rückkehr zur Malerei. Er griff mithilfe seiner „Natur-Notizen“ auf frühere Motive in neuem Stil zurück und übertrug zentrale Kompositionen wie die Gebäudeschluchten aus „Barfüsserkirche II“ (1926) oder aus den Fotografien aus Halle auf seine neue Umgebung, so etwa in der Serie der New-York-Bilder wie „Manhattan I“ (1940). Feiningers frühe Tendenz, fast, aber nicht ganz abstrakt zu arbeiten, steigerte sich in seinem Spätwerk, besonders in der Serie der New Yorker Hochhäuser. Dies gilt auch für die Fotografie, die sich mehr als zuvor am Abstrakten orientiert. Feininger beschäftigte sich verstärkt mit farbigen Diapositiven und griff bekannte Motive und Kompositionen aus seinem Werk wieder auf. Anknüpfend an sein Gemälde „Glasscherbenbild“ (1927) experimentierte er mit sich überlagernden Glasscherben und Lichtphänomenen, die durch die Projektion des Diapositivs auf einer weiteren visuellen Ebene fortgesetzt wurden.