LIQUID ARCHITECTURE
Doug Aitken setzt Bild und Architektur miteinander in Beziehung und vereint sie zu einer fließenden, dynamischen Form.
Von Marie Sophie BeckmannDie Stadt ist in mattes Licht getaucht, Autos umkreisen den Platz, auf dem das große, monolithische Gebäude steht. Bis auf das Rauschen des Feierabendverkehrs ist es still. Und dann: riesige Tonbandspulen surren, ein Lied beginnt zu spielen, überlebensgroße Menschen singen ein Liebeslied für eine ganze Stadt: „Are the stars out tonight? / I don't know if it's cloudy or bright / I only have eyes for you, dear“. Für sein Projekt „SONG 1“ bat Doug Aitken Schauspieler, Musiker und Laiendarsteller, die Musical-Nummer „I Only Have Eyes For You“ aus den 1930ern zu interpretieren. „You are here and so am I / maybe millions of people go by / But they all disappear from view / And I only have eyes for you“. Diese Zeilen gewinnen, im Kontext von Aitkens Setting, eine komplett neue Bedeutung. Denn „SONG 1“ wurde im Jahr 2012 auf der Fassade des Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington D.C. gezeigt, und zwar als konvexe 360 Grad Projektion, die die gesamte, immerhin 220 Meter umfassende, Außenwand des zylindrischen Museumsgebäudes nahtlos umspannte. So trat der Film nicht nur in unmittelbare Beziehung zu der urbanen Umgebung mit all ihren Straßen, Lichtern, Gebäuden, Bäumen und Bewohnern. Sondern auch mit der Architektur und materiellen Beschaffenheit des Museumsgebäudes selbst. Mal scheint die rohe, aus Betonfertigteilen geschaffene Oberfläche durch, mal verschluckt der Film das Gebäude beinahe komplett.
Doug Aitken, Sleepwalkers, Installation view, MoMA, New York, 2007, Image via The Expanded Cinema Collective
„SONG 1“ ist die bislang ambitionierteste Ausführung von Doug Aitkens Vorstellung einer „liquid architecture“, die Bild und Architektur zu einer fließenden, sich in Bewegung befindenden Form zusammenführt. Für Aitken, der bereits seit den 1990er-Jahren mit der Erweiterung des Mediums Film und seiner Überführung in den Raum experimentiert, ist die Verbindung von bewegtem Bild und Architektur nur konsequent. Im Jahr 2001 bespielt Doug Aitken erstmalig ein gesamtes Museumsgebäude. Für die Londoner Serpentine Gallery konzipiert er die Arbeit „New Ocean“, die sich, vom Keller bis zum Dach des Gebäudes, mit Fotografien, Sound und Film über die regulären Ausstellungsflächen hinaus bewegt. In New York geht Aitken noch einen Schritt weiter. „Sleepwalkers“, eine ortsspezifische Arbeit bestehend aus insgesamt acht großflächigen Projektionen, verteilte Aitken 2007 über die gläsernen Fronten des Museum of Modern Art. Wie der Titel suggeriert, ist die Installation nur nachts zu sehen und erzählt die jeweilige (Stadt-) Geschichte acht fiktiver Charaktere. Der Kurator Klaus Biesenbach nennt „Sleepwalkers“ ein gebrochenes Narrativ, ohne Ende und Anfang. Denn tatsächlich überlagern sich die Erzählungen, wirken fragmentarisch. Auch können die Projektionen, wie so oft in Aitkens Außeninstallationen, allein aufgrund der Größe des Gebäudes nie gleichzeitig oder in ihrer Gänze betrachtet werden.
Doug Aitken, Mirror, Installation view, Seattle Art Museum, 2013, Image via Seattle Art Museum
Dichte, sattgrüne Wälder und stille Gewässer wechseln sich mit Industrie- und Betonlandschaften ab. Eine Reihe von LED-Bildschirmen umspannt die Fassade des Seattle Art Museum, schmale Lichtstreifen fließen das Gebäude hinauf und herab. „MIRROR" (2013) wurde als dauerhafte Installation kreiert, die die Strukturen des Museumsgebäude, wie die gläserne Front, die Proportionen und die Verkleidungen, aufnimmt und durch die Einbeziehung von filmischen Bildern und LED-Effekten dynamisiert. In stillen, beobachtenden Einstellungen zeigt Aitken den Bewohnern Seattles die Schönheit der Stadt und ihrer Umgebung. Doch nicht nur das: "I was interested if the work can move on its own and constantly create its own sequences, patterns and composition. Like a minimalist musical composition", so Aitken. Denn je nach Temperatur, Helligkeit oder Lautstärke der Umgebung ändern sich auch Farbgebung, Schnelligkeit und Abfolge der Bilder. Die filmische Installation reagiert direkt auf die Bedingungen der Stadt, übersetzt sie visuell und versetzt die Architektur in Bewegung.
Doug Aitken, The Source, Installation view, Tate Liverpool 2012, Image via Photomonitor
Was ist die Quelle von Kreativität, wie entsteht eine Idee? Und wie wird sie umgesetzt? Diese Fragen richtete Doug Aitken für „THE SOURCE" (2012) unter anderem an Tilda Swinton, Mike Kelley und William Eggleston, filmte die Interviews und schnitt sie zusammen. Aitken selbst nannte das Projekt „a celebration of the power of the individual". Und was läge da näher, als dieser kreativen Kraft einen Tempel zu bauen? Gemeinsam mit dem britischen Architekten David Adjaye entwarf der Künstler einen temporären Pavilion, ein hölzernes Konstrukt, auf dessen Innen- und Außenwände die Interviews projiziert wurden. So fungierte der Pavilion, der zwar für die Tate Liverpool konzipiert wurde, sich jedoch außerhalb der Ausstellungsräume befand, als ein begehbarer Ort, als ein „Feld von Ideen" (Aitken). Die architektonische Struktur reflektierte die der künstlerischen Arbeit und trat gleichzeitig in Wechselwirkung mit ihr. Denn wie die meisten filmischen Installationen Aitkens besteht auch „THE SOURCE" aus fragmentarischen Bildsegmenten, die unabhängig voneinander, in immer anderer Reihenfolge gesehen werden.Im Kern befasst sich die Architektur, als Handwerk wie als Kunstform, mit dem Verhältnis von Mensch und Raum. Sie schafft eine Grenze zwischen dem Innen und dem Außen. Wie ist dann eine fließende Form der Architektur zu verstehen? Dies zeigt sich in Doug Aitkens Arbeiten, wenn ebenjene Grenzen, nicht nur zwischen Innen und Außen, sondern auch zwischen Mensch und Raum, Bild und Abbild, dynamisch, beweglich, fließend erscheinen.