Was für ein Ort ist der Ozean? Fragen wie diese stellte sich vor John Akomfrah bereits Heathcote Willams in seinem Gedicht „Whale Nation“. In den Reading Sessions sowie im SCHIRN BOOKCLUB treten Texte wie dieser mit Akomfrahs Werk in einen Dialog – und verraten so manches über seine Einflüsse und Arbeitsweise.
Mit der Ausstellung John Akomfrah. A Space of Empathy widmet sich die SCHIRN erstmals drei Videoarbeiten des Künstlers und schafft dabei auch einen Raum für den Einfluss von Literatur und Sachtexten auf sein filmisches Oeuvre. Dieser Fokus wird bereits beim Betreten der Einzelausstellung deutlich, deren Eingang als Leseraum angelegt ist und um die 50 Titel umfasst – von Paul Gilroys „There Ain‘t No Black in the Union Jack“, über „How Forests Think“ von Eduardo Kohn bis zu Julian Warners „After Europe“ setzt sich dieser später auch in den kleinen, schleusenartigen, Zwischenräumen der Ausstellung mit einigen Titeln fort. Und auch in den ausstellungsbegleitenden Reading Sessions und dem SCHIRN BOOKCLUB wird den Verbindungen zwischen Akomfrahs Werk, Sachtexten und Literatur nachgespürt.
Everything’s connected
Akomfrah verwendet für seine Filme sowohl eigenes als auch historisches und dokumentarisches Filmmaterial, in Farbe und Schwarz-Weiß, verknüpft verschiedene Zeitebenen, historische und politische Ereignisse und arbeitet grundsätzlich immer mit mehreren Leinwänden – den roten Faden muss aber jede*r für sich selbst finden. Denn die übergeordneten Themenbereiche seiner Filme – etwa Kolonialismus, Klimawandel, Migration oder Gesellschaft, um nur einige wenige zu nennen – werden oftmals verschränkt und übereinandergelegt. Dabei bricht er mit der Idee und dem Glauben einer linearen Geschichtserzählung und bietet mit den verschieden bespielten Leinwänden und Ausschnitten, unterschiedliche Anknüpfungspunkte und Zugänge zu diesen größeren Themen, die immer getrennt gedacht und diskutiert werden, dabei jedoch stets miteinander verbunden sind.
Diese besondere Herangehensweise spiegelt sich nicht nur in seinen Filmen, sondern auch in der Auswahl der Literatur für den SCHIRN BOOKCLUB zur Ausstellung wider. In diesem werden nicht nur die Themen der Filme vertieft, sondern auch Texte verschiedener Genres ergründet, die für Akomfrah von großem Einfluss waren. Darunter „Whale Nation“ von Heathcote Willams, ein Gedicht das 1988 erschien und bis heute ein Appell gegen die Walfangindustrie ist. In dem Gedicht, das das Leben der Wale besingt und diese im Einklang mit der Natur beschreibt, birgt sich zwischen den Zeilen der Protest Williams, verlernt zu haben, die Tiere als das zu sehen, was sie sind.
„From space, the planet is blue.
From space, the planet is the territory
Not of humans, but of the whale.
Blue seas cover seven-tenths of the earth’s surface,
And are the domain of the largest brain ever created,
With a fifty-million-year-old smile.
Ancient, unknown mammals left the land
In search of food or sanctuary,
And walked into the water.”
In einem umfassenden Blick auf das Leben der Wale als Teil der Natur beschreibt das Gedicht, wie sie in ihr Nahrung und Schutz finden. Williams stellt das Zusammenspiel zwischen dem Ozean und den Walen als eine sich ergänzende Verbindung dar, in der sie sich ohne äußere Einwirkungen und Störfaktoren schneller entwickeln konnten und somit zu den dominantesten Lebewesen im Wasser wurden:
„Free from land-based pressures:
Free from droughts, earthquakes, ice-ages, volcanoes, famine,
Larger brains evolved, ten times as old as man’s…
Other creatures, with a larger cerebral cortex,
Luxuriantly folded, intricately fissured,
Deep down, in another country,
Moving at a different tempo.”
Die Beschreibungen des Hindurchnavigierens nicht vorbei an, sondern mit der Natur, erfasst die Größe und Erhabenheit der Wale als das Tier des Meeres. Der Rhythmus ihrer Bewegungen sowie ihr Wissen um die Tiefe („knowledge of the deep“) und das Leben auf diesem Planeten, tragen sie durch ihre Gesänge über Meilen und Jahrhunderte an Generationen weiter:
„The minutiae of a shared consciousness;
Whale dreams;
The accumulated knowledge of the past;
Rumours of ancestors, the Archaeoceti,
With life-spans of two and three hundred years;
Memories of loss;
Memories of ideal love;
Memories of meetings…”
Williams Protest Ende der 1980er-Jahre gegen die schonungslose Ausbeutung der Natur durch den Menschen erstreckte sich mit „Whale Nation“ und weiteren Büchern, wie „Sacred Elephant“ (1989) und „Autogeddon“ (1992), auch auf die Frage nach der Vorgehensweise, wie diese Themen gedacht und besprochen wurden. Es war ihm ein großes Anliegen, die Form der Poesie als ein Mittel für den Diskurs anwenden zu können und sie hierfür von ihrem Elfenbeinturm herunterzuholen. Mit seinen literarischen Werken hinterließ er dem Historiker Peter Whitfield zufolge einen nachhaltigen Eindruck auf die aufstrebende Umweltschutzbewegung. Neben seinen Überlegungen zum Gebrauch von Sprache in Diskurs und Protest zeichnen sich seine Texte durch verschiedene Ansätze und Perspektiven zum Umweltschutz aus. So erwähnt er in „Whale Nation“ unterschiedliche Volksgruppen wie die Inuit, Kwakiuti oder Nootka, die die Wale als ein Teil der Natur schätzen und mit ihnen zusammenleben. Williams schildert jedoch im gleichen Atemzug auch die Walfangindustrie und das westliche Verständnis von Walen als ausschließlich wirtschaftliche Ressource:
„An accurate shot lands between the shoulder-blades.
An inaccurate shot is followed up by two, three or four more.
At the end of the five-foot-long harpoon
A small serrated cup prevents ricochet.
The tip strikes,
Followed by a time-fused charge exploding three seconds later,
Splintering and lacerating the harpoon’s way into the whale’s side.”
Vergleichbare Arbeitsweisen, verschiedene Medien
In einem Nachruf über Williams, der 2017 verstarb, schrieb Whitfield über die Arbeit des britischen Dichters, Schauspielers und Theaterautors: „His poetry was not directed inwards to the self, as most poetry is, but outwards to the world we live in, and to open the reader’s eyes to its tragic imperfections.”
Seine Beschreibung von Williams' Arbeitsweise lässt sich auch auf die Filme von Akomfrah übertragen. Auf drei großen Leinwänden greift der Künstler in „Vertigo Sea“ anhand von dokumentarischem Filmmaterial, selbst gefilmten Landschaftsaufnahmen, aber auch Zitaten und vorgetragenen Fragmenten aus unterschiedlicher Literatur, das Meer als einen Handlungsort von Weltgeschehen auf. Es werden verschiedene Ausbeutungsstrukturen in Bezug auf das Meer thematisiert, darunter sowohl die Walfangindustrie sowie die Verschleppung und Versklavung von Afrikaner*innen, als auch Flucht und Migration.
Die Bilder und Zitate werden dabei jedoch nicht zu einem harmonischen Ganzen, oder stringenten Erzählstrang zusammengeführt, vielmehr nutzt Akomfrah sie, um die unterschiedlichen Narrative und darin vorkommenden Identitäten versetzt, unvollständig, oder oftmals auch nur sequenzhaft zusammenzuführen. Neben den eindrucksvollen Landschaftsaufnahmen und Bildern des Ozeans in denen sich die Wale wie in Williams Gedicht frei und schnell bewegen, wird das Meer auch als gewaltvoller Ort und Grabstätte erfahrbar: „There is no difference between killing a man and a beast” blitzt einmal ein Zitat aus „Whale Nation“ auf.
Beiden, Williams und Akomfrah, geht es nicht darum die Schönheit der Natur dem Schrecken der menschgemachten Ausbeutungsmechanismen und -strukturen gegenüberzustellen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass es eine Gleichzeitigkeit und Verbindung zwischen diesen Landschaften, verschiedenen Zeitlinien sowie den politischen Ereignissen gibt, deren Bilder sich nicht in das Gedächtnis der Weltgemeinschaft eingeschrieben haben. So gleiten auf den großen Leinwänden zwischen den einzelnen Sequenzen in „Vertigo Sea“ nicht nur die Wale durch das Meer, sondern auch Williams Protest aus „Whale Nation“ – manchmal sichtbar, manchmal unsichtbar. Was für ein Ort ist der Ozean? Und was für ein Ort war er einmal?
Die Zusammenführung verschiedener Narrative auf den Leinwänden greift diese Fragen auf und bringt sie ins Gespräch – miteinander, aber auch mit den Betrachter*innen. Wie auch die Reading Sessions und der SCHIRN BOOKCLUB, lädt sie dazu ein, die vermeintliche Unordnung der Bilder, Themen und Zeitlinien in den realen Raum zurückzuholen und ihre Gespräche auf dieselbe Weise fortzuführen.