John Akomfrahs Videoarbeit „The Unfinished Conversation” ist eine Widmung an den Kulturtheoretiker und Soziologen Stuart Hall. Der preisgekrönte Frankfurter Filmemacher Oliver Hardt kennt das Werk seit vielen Jahren und verrät, welche Bedeutung Hall für Akomfrah und die Schwarze Diaspora hat.

John Akomfrahs Film „The Unfinished Conversation“ (2012), der in der Ausstellung JOHN AKOMFRAH. A SPACE OF EMPATHY in der SCHIRN gezeigt wird, ist eine Hommage an den in Jamaika geborenen Soziologen und Kulturtheoretiker Stuart Hall (1932-2014). Die Dreikanal-Videoinstallation besteht zum größten Teil aus Archivaufnahmen von Halls Rundfunk- und Fernsehauftritten in der BBC. In diesen spricht er über seine Erinnerungen an sein Herkunftsland Jamaika, damals noch britische Kolonie und seine Ankunft im Vereinigten Königreich in den 1950er-Jahren als Teil der sogenannten Windrush-Generation, die die zwischen 1948 und 1971 aus den Commonwealth-Staaten migrierten Menschen umfasst. Benannt ist sie nach dem gleichnamigen Schiff, das die ersten Einwanderer*innen aus der Karibik über den Atlantik brachte. Auch thematisiert er seine Zeit an der Oxford-Universität und seine spätere Rolle als Mitbegründer der britischen Cultural Studies. An einer Stelle im Film bemerkt Hall: „When I ask anyone where they´re from I expect nowadays to be told an extremely long story".

Stuart Hall, Image via ceasefiremagazine.co.uk

Er fasst damit so beiläufig wie bestimmt die Essenz der Schwarzen diasporischen Erfahrung zusammen, wie sie besonders im Vereinten Königreich, aber auch in anderen europäischen Ländern bestand: So war die Ausdifferenzierung jener Lebensrealität seit den 1980er-Jahren beispielsweise auch für Schwarze Menschen in Deutschland ein zentrales Anliegen. Hier waren es vor allem Schwarze feministische Aktivist*innen, die an der Sichtbarmachung ihrer Geschichte und Gegenwart arbeiteten. Zu den Pionier*innen der afrodeutschen Bewegung zählen neben vielen anderen die Dichterin und Aktivistin der ersten Stunde, May Ayim (1960-1996), die zeitweise in Berlin lebende US-Schriftstellerin und Bürgerrechtsaktivistin Audre Lorde (1934-1992) und die Historikerin Katharina Oguntoye (geb. 1959). Der Austausch zwischen den verschiedenen europäischen und US-amerikanischen Diskursen über Schwarze Identität(en) und ihren Platz in den sich hartnäckig als ‚weiß‘ definierenden Gesellschaften führte zu einer tiefen Verbundenheit untereinander, die bis heute nachwirkt.

Audre Lorde, Katharina Oguntoye, May Ayim, Image via tumblr.com

Audre Lorde und May Ayim am Winterfeldtplatz in Berlin-Schöneberg (c) Dagmar Schultz, Image via commons.wikimedia.org

Identität als unabgeschlossener Prozess

Wie „The Unfinished Conversation“ eindringlich zeigt, speist sich Halls Überzeugungskraft in eben jenen Diskursen aus seiner Fähigkeit, komplexe historische Zusammenhänge präzise und unaufgeregt darzulegen. Akomfrahs Bild- und Tonmontage erweitert die Konversation, indem sie den Zuschauer*innen den Raum lässt, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren. Mit der Zusammenstellung der Archivsequenzen erschafft Akomfrah eine komplexe Erzählung, die die einseitige westliche Geschichtsschreibung in Bezug auf Identität und Kolonialität hinterfragt und darin auch seine eigene Biografie als Migrant widerspiegelt: 1957 in Ghana geboren, kam er in den frühen 1960er-Jahren als Kind ins Vereinte Königreich.

Installationsansicht The Unfinished Conversation, 2012, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Stuart Hall hat sich, wie John Akomfrah auch, Zeit seines Lebens mit Fragen der Identität beschäftigt, und das auf eine Art und Weise, die uns bis heute dabei hilft, in den komplexen Themenfeldern von Herkunft, Zugehörigkeit und ‚race‘zu navigieren. In seiner 2020 auf Deutsch erschienen Autobiografie „Vertrauter Fremder - Ein Leben zwischen zwei Inseln" schreibt er:

„Wir neigen dazu, Identität als etwas zu betrachten, das uns zu unseren Wurzeln zurückbringt, als einen Teil unseres Selbst, der über die Zeit im Wesentlichen gleich bleibt. Tatsächlich aber ist Identität ein nie abgeschlossener Prozess des Werdens – ein Prozess veränderlicher ‚Identifizierungen‘, nicht eine einzelne, vollständige, fertige Daseinsform."

Stuart Hall: Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln, 2020 (Argument Verlag mit Ariadne), Image via thalia.de

Die Kultur der Karibik ist für Hall die Blaupause für eine hybride Gesellschaft, in der jeder von woanders herkommt. Die eigene familiäre Herkunft benennt er als Amalgam aus afrikanischen, jamaikanischen, schottischen und portugiesisch-jüdischen Einflüssen. Seine Erfahrungen mit einem Leben in und zwischen mehreren Welten führen Hall zu der Erkenntnis, wie Kultur im Allgemeinen funktioniert: nicht als stabile, linear fortschreitende Entwicklung, die auf ewig mit ihren vermeintlichen Ursprüngen verknüpft ist, sondern als Abfolge von Bewegungen, diasporischen Brüchen, Verschiebungen und Anpassungen. ‚Routes, not roots‘ – Wege, auf denen sich Kultur seit jeher bewegt, sich ständig neu konfigurierend und ohne vermeintliche Wurzeln, zu denen sie zurückkehren könnte.

Stuart Hall und das Black Audio Film Collective

Für Akomfrahs künstlerische Arbeit war Stuart Hall als Person und als Denker stets ein wichtiger Bezugspunkt. Bereits die frühen Filme, die Akomfrah als Mitglied des 1982 gegründeten Black Audio Film Collective realisierte, verdanken dem agilen Kulturtheoretiker wichtige Impulse. So stand von Beginn an die Dekonstruktion allzu simpler und monolithischer Darstellungen Schwarzen Lebens in den britischen Medien im Zentrum der künstlerischen Arbeit des Kollektivs.

John Akomfrah, The Unfinished Conversation, 2012, Filmstill, © Smoking Dogs Films / Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery
John Akomfrah in seinem Studio in London, 2016 © Smoking Dogs Films; Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery. Foto: Jack Hems

Die 1986 erschienene Filmcollage „Handsworth Songs“ beschäftigt sich mit den Unruhen, die das Vereinigte Königreich unter der repressiven Politik Margaret Thatchers erfuhr und der unangemessenen Darstellung von Ereignissen und Ursachen in den britischen Medien. „Handsworth Songs“ war formal wie inhaltlich ein bahnbrechendes Werk: Unter Verwendung von Archivmaterial, innerer Monologe und eines ausgeklügelten Soundtracks kreierte das Black Audio Film Collective mit dem knapp einstündigen Werk eine filmisch intensive und empathischere Darstellung Schwarzer britischer Lebensrealitäten. Zugleich hinterfragten sie mit ihren Arbeiten die dominierende Aufteilung unabhängigen Filmschaffens in Erste-Welt-Avantgarde versus Dritte-Welt-Aktivismus, indem sie die bestehende Dichotomie auflösten zu Gunsten einer formal und inhaltlich differenzierteren Sicht auf sich und das Zeitgeschehen.

Black Audio Film Collective: Handsworth Song, 1986, Image via artreview.com

Geschichte ist Gegenwart

Im Interview mit Julia Grosse, der Kuratorin der Frankfurter Ausstellung, betont Akomfrah die intime Verbindung, die bereits zu dieser Zeit zwischen ihnen und Stuart Hall bestand: „Er war einer der wenigen Menschen, die die erste Rohversion von „Handsworth Songs“ gesehen haben. Wir luden ihn ein, sie anzuschauen und dann mit uns darüber zu sprechen, denn Stuart war damals eine wichtige Figur im Leben vieler Schwarzer Briten." Gemeinsam arbeiteten sie an der Dekonstruktion kolonialer und postkolonialer Geschichtsschreibung und an einem neuen Verständnis Schwarzer diasporischer Identität. Bereits in den frühen Arbeiten der Gruppe sind die formalen Aspekte sichtbar, die später konstituierend für das Werk Akomfrahs werden: ein affirmativ-kritischer Umgang mit Archiven, die Dekonstruktion der Tonspur und das Beharren auf Multiperspektivität und Diskursivität. In Akomfrahs raumgreifenden Mehrkanal-Projektionen werden diese Elemente später zum bestimmenden Faktor für ihre intellektuelle und sinnliche Intensität. Die Offenheit der Erzählungen ermöglicht es dem Publikum, an einer Konversation teilzunehmen, die geeignet ist, den Blick auf sich selbst und auf andere grundlegend zu verändern.

Black Audio Film Collective: Handsworth Song, 1986, Image via artreview.com

There are no stories in the riots, just ghosts of other stories.

Black Audio Film Collective

Ein oft zitierter Satz aus „Handsworth Songs” lautet: „There are no stories in the riots, just ghosts of other stories.” Gemeint ist damit, dass jeder Kampf gegen Rassismus und gesellschaftliche Diskriminierung im Kontext kolonialer Geschichte zu sehen und zu verstehen ist. So wie Stuart Hall und John Akomfrah Identität als einen fortdauernden Prozess des Aushandelns mit sich selbst und dem sozialen Umfeld begreifen, so ist auch Dekolonisierung nicht etwas, das irgendwann erfolgt wäre und fortan keine Auswirkungen mehr hätte. Im Gegenteil: Geschichte ist, wie es der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin einmal formulierte, nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart, etwas, das wir in uns tragen und das unser Dasein und Denken mehr bestimmt, als uns lieb ist.

Black Audio Film Collective: Handsworth Song, 1986, Image via artreview.com

JOHN AKOMFRAH. A SPACE OF EMPATHY

9. NOVEMBER 2023 – 28. JANUAR 2024

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